Schrotteröffnungen

Hikaru Nakamura hat kürzlich einen ‚Speedrun‘ mit ‚Garbage Openings‘ und einen mit Gambits gemacht. Wie üblich hat er alle Partien gewonnen, und das obwohl er mehr mit Chatten als mit Spielen beschäftigt war. Schrotteröffnungen sind seiner Ansicht nach solche, die auf GM-Niveau nicht gespielt werden, weil sie sozusagen von Anfang an ums Remis betteln. Als Schwarzer bevorzugte er als Schrott Skandinavisch und Budapester.

Ich – Er, Blitz 3’+0“, Dezember 2020
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Le7 5.e5 Sfd7 6.h4 a6 7.Dg4 f5 8.Dh5+ Kf8 9.g4 fxg4 10.Dxg4 c5 11.Dxe6 Sf6 12.exf6 Lxe6 13.fxe7+ Dxe7 14.Lxe7+ Kxe7 15.dxc5 1-0

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Le7 5.e5 Sfd7 6.h4 a6 7.Dg4 f5

Das hatte ich öfters, offenbar immer gegen den gleichen Gegner. Ich spielte jeweils schematisch 8.Dg3 und es entstand eine dieser französischen Stellungen, die ich gar nicht mag. Dann erinnerte ich mich an mein eigenes Gebot und prüfte den Zug mit Stockfish. Der meinte 8.Dh5+ g6 9.Dh6 und plus zwei. Was mir einleuchtete, es droht Dg7, Schwarz hat nichts besseres als 9…Lxg5 10.hxg5 De7 und Weiss ist klar im Vorteil weil der Sg1 nach f4 hüpft.

8.Dh5+ Kf8

Das kam überraschend, und ich wusste davon eigentlich nur, dass es noch schlechter sein musste als 8…g6. Gut, ich probierte 9.Sh3 und nach 9…De8 kam mir 10.Lxe7+ Dxe7 11.g4 nicht in den Sinn. Es ist ja nicht gerade offensichtlich, dass es hier plus fünf(!) steht. Eine erneute Computer-Konsultation ergab, dass man ohne weiteres 9.g4 spielen kann.

9.g4 fxg4 10.Dxg4

Selbstverständlich, aber 10.Sge2 war noch stärker, weil Sf4 im nächsten Zug Sxe6+ und Sg6+ drohen würde.

10…c5

Stellt eine perfide Falle, auf die ich blindlings hineinfiel.

11.Dxe6 Sf6

Hoppala, ich hatte nur 11…Lxg5 12.hxg5 Sf6 13.Dd6+ gesehen, wieso auch immer. Aber mein Gegner hatte gewaltig Pech.

12.exf6 Lxe6 13.fxe7+ Dxe7 14.Lxe7+ Kxe7 15.dxc5 1-0

Diese Partie zeigt eindrücklich dass Dilettanten sich ihr Eröffnungsrepertoire aufgrund ihrer Erfahrungen zusammenschustern und auf Computerhilfe verzichten. Mein Gegner war sicher mit 7…f5 immer gut gefahren und ich würde mich nicht wundern, dasselbe von ihm demnächst wieder vorgesetzt zu bekommen.

7…f5 ist übrigens nach 7…Lxg5 der zweit häufigst gespielte Zug und ich habe 90 Partien damit gefunden. In 54 Partien davon kam 8.Dh5+ und Weiss erzielte über 80% der Punkte. Auch Datenbank-Konsultationen scheinen bei Dilettanten höchst unbeliebt zu sein.

Die Theoriebücher meiner Jugend empfahlen übrigens 6…a6 als stärksten Zug und gaben 7…f6 8.Dh5+ Kf8 9.exf6 Sxf6 10.De2 als korrekte Fortsetzung an. Danach macht Weiss sogar über 90% der Punkte. In einer Junioren-Partie hatte ich vor über 50 Jahren 7…f6 8.Dh5+ g6 9.exf6 gxh5 10.fxe7 Dxe7 11.Lxe7 Kxe7.

Ich denke, alles andere als 6…Lxg5 oder 6…h6 ist Schrott.

Nachtrag: Ich habe mich gerade an eine Partie von Stockfish gegen Komodo aus 2014 erinnert. 6…O-O geht auch und ist auf allerhöchstem Niveau kein Schrott:
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.Lg5 Le7 5.e5 Sfd7 6.h4 O-O 7.Dg4 Te8 8.Lh6 Lf8 9.h5 f5 10.exf6 e5 11.fxg7 exd4+ 12.Sge2 Lc5 13.Df3 c6 14.Sxd5 Te6 15.O-O-O Txh6 16.Sxd4 Se5 17.Df4 Td6 18.Se3 Lxd4 19.Txd4 Txd4 20.Dxe5 c5 21.Lc4+ Txc4 22.Sxc4 Sc6 23.Dxc5 Df6 24.h6 Le6 25.Kb1 a5 26.Sd6 Sb4 27.b3 Sd5 28.Se4 Dg6 und remis nach 122 Zügen.

Natalia Patricia Castro – Cinthya Carolina Muñoz Monroy
Spanische Ausscheidung für die Olympiade, Dezember 2019
1.e4 d5 2.exd5 Sf6 3.d4 Lg4 4.Sf3 Dxd5 5.Le2 Sc6 6.O-O O-O-O 7.c4 Dh5 8.Le3 e5 9.h3 e4 10.hxg4 Sxg4 11.Sh4 f5 12.Lxg4 fxg4 13.g3 g5 14.Sg2 Td6 15.Sd2 Th6 16.Sh4 gxh4 17.Lxh6 hxg3 18.fxg3 Lxh6 19.Te1 Sxd4 20.Txe4 Lxd2 21.Dxg4+ Dxg4 22.Txg4 h5 23.Te4 Tg8 24.Kh2 Sf5 25.Tg1 Lb4 26.g4 Ld6+ 27.Kh3 hxg4+ 28.Tgxg4 Th8+ 29.Kg2 Th2+ 30.Kf3 c5 31.Tg8+ Kd7 32.Ta8 a6 33.Kg4 Sd4 34.b4 Tg2+ 35.Kh5 Se2 36.Tee8 cxb4 37.Tad8+ Kc7 38.c5 Sf4+ 39.Kh6 Lxc5 40.Tc8+ Kb6 41.Te4 Sd5 42.Tc4 Le3+ 43.Kh7 a5 44.Tc2 Tg4 45.Tb8 Sf6+ 46.Kh8 Kb5 47.Tf8 Lh6 48.Tb8 Lg7#

1.e4 d5 2.exd5 Sf6 3.d4 Lg4 4.Sf3 Dxd5 5.Le2 Sc6

Die Portugiesische Variante der Skandinavischen Verteidigung. Ist das nun Schrott oder nicht? Geht man nach den Resultaten starker Spieler, ist es definitiv Schrott. Ich habe bei einer oberflächlichen Recherche in GM-Partien 25 Weiss-Siege bei 5 Schwarz-Siegen und ein paar Remisen gefunden. Bei Amateuren sieht es allerdings anders aus. Es gewinnt immer noch mehrheitlich Weiss, aber nicht in diesem krassen Verhältnis. Was meines Erachtens daran liegt, dass der Ausgang von Partien schwächerer Spieler viel weniger mit der objektiven Sachlage zu tun hat als bei stärkeren Spielern.

In Fernschachkreisen gilt die Variante zwar als spielbar, aber es wird von Anfang an auf zwei Resultate gespielt. An modernen Fernschach-Weltmeisterschaften gewinnt sowieso nie Schwarz und 95% der Partien enden remis. Die paar wenigen Schwarzsiege die ich in Spitzen-Fernschachpartien gesehen habe, entstanden meist aus Königsindisch. Richtig, Königsindisch, natürlich den geschlossenen Varianten, weil die Computer langsame Königsangriffe immer noch nicht einschätzen können.

Unsere Protagonistinnen haben beide knapp über 2000 Elo. In dieser Spielstärke sind solche hyperagressiven Eröffnungen durchaus zu empfehlen. Schwarz wird lang rochieren und das Zentrum mit e5 zu sprengen versuchen. Hingegen braucht sich Weiss nicht vor einem Königsangriff zu fürchten, dieser wird in jedem Fall langsamer kommen als ihr eigener auf der Damenseite. Es sei denn sie lässt sich einen Läufer auf h3 hineinopfern.

Vorerst geht es für Weiss also darum, das Zentrum zu befestigen und um die Frage, ob sie das mit c4 und d5 tun will, oder den Bauern auf d4 stehen lassen und dabei die Gegenüberstellung von Dame und Turm auf der d-Linie neutralisieren will.

Der erfolgreichste Zug ist 6.h3, aber nur weil die Mehrheit dann mit 6…Lh5 antwortet und nicht mit 6…Lxf3 7.Lxf3 Dd7 8.O-O O-O-O 9.c3 e5 eine solide Stellung anstrebt. Psychologisch verständlich, eine aggressive Eröffnung verlangt nach aggressiven Zügen. Nur leider sieht es nach 6…Lh5 7.c4 Dd7 8.g4 Lg6 9.d5 bereits ziemlich übel aus für Schwarz. Und nach 6…Dh5 sehen wir bereits einen der wesentlichen Tricks dieser Eröffnung, Nach 7.O-O muss Schwarz auf f3 tauschen, weil 7…Lxh3 eine Figur verliert: 8.Se5 Dh4 9.Sxc6 bxc6 10.gxh3 Dxh3 11.Lf3. Die 8 Partien aus dieser Stellung endeten mit 7 zu 1 für Weiss.

Ähnlich sieht es nach 6.c4 aus. Dort weichen fast gleich viele nach h5 aus, wie nach f5. Und siehe da mit Erfolg, weil darauf die Rochade schlecht ist. Nach 6.c4 Dh5 7.O-O? O-O-O drohen 8…Sxd4 und 8…e5. Manche ignorierten die Drohung mit 9.h3?, die prominenteste davon Alexandra Kosteniuk – allerdings in einer Blindpartie – gegen Maria Muzychuk, welche dann ihrerseits auf 8…Sxd4 9.Sxd4 Lxe2 10.Dxe2 Txd4 verzichtete. 8.Le3 e5 ist ebenso katastrophal. Die Pointe davon ist nicht leicht ersichtlich: 9.h3 exd4 10.hxg4 Sxg4. Jetzt hängt der Läufer und im nächsten Zug kommt d3. Ein Beispiel: 11.Lg5 f6 12.Lh4 d3 13.Lxd3 Sb4 und gewinnt.

Trotzdem, 6.c4 Dh5 7.O-O O-O-O, und jetzt ist 8.d5 noch knapp spielbar. Schwarz kann zwischen 8…e6 und 8…Se5 wählen.

Nach 6.c4 Dh5 kommt Weiss mit 7.Le3 O-O-O 8.Sbd2 e5 9.d5 in Vorteil. Eine beliebte Stellung , aus der Weiss 66% der Punkte macht. Die Theorie setzt mit 9…Sd4 10.Sxd4 exd4, und jetzt 11.Lxg4+ Sxg4 12.Lxd4 Te8+ 13.Kf1 Sxh2+ 14.Kg1 Dxd1+ 15.Txd1 Sg4 fort. Das Bauernopfer mit 11.Lxd4 Te8 12.f3 Lf5 13.O-O Ld6 14.g3 Dg6 15.Tf2 anzunehmen ist nicht empfehlenswert.

Schwarz sollte nach 6.c4 Df5 spielen. Danach hat Weiss eine grosse Auswahl von vernünftigen Zügen. 7.O-O, 7.h3, 7.Sbd2, 7.Se3 usw. Weitaus am beliebtesten ist aber 7.Le3, was wegen 7…e5 8.d5 Sb4 nichts bringen sollte. Aber die meisten spielen 7…O-O-O, wonach Weiss wiederum mit 8.Sc3 e5 9.d5 e4 10.Sd4 Sxd4 11.Lxd4 leicht in Vorteil käme. Wir sehen also bereits hier, dass die meisten von dieser Eröffnung wenig verstehen und sie wohl eben gerade deshalb spielen. Ist aber die falsche Einstellung. Insbesondere Schwarz kann mit solchen Feinheiten gute Geschäfte machen.

Natalia wählt den wahrscheinlich stärksten Zug.

6.O-O O-O-O

Das durfte nur mit der Absicht geschehen, nun mit 7.Le3 den Durchmarsch c4 nebst d5 zu drohen, was z.B. entscheidend auf 7…e5? käme. Schwarz hat zwei gute Züge: 7…Df5 8.c4 e5 9.d5 e4 10.Sd4 Sxd4 11.Lxd4 und das solide 7…Lxf3 8.Lxf3 Dd7 analog zu einer früheren Veriante. In der Praxis sieht es aber so aus, dass die meisten 7…e6? spielen und dann nach 8.Sbd2 oder 8.c4 im Nachteil sind, was sich wiederum in den jeweiligen Gewinnprozenten von 75% respektive 71% niederschlägt.

Ich wage zu behaupten, dass die Schwarzspieler mit ihrer Schrotteröffnung viel besser abschneiden würden, wenn sie wenigstens die ersten 8 Züge ihrer Eröffnung kennen würden.

7.c4? Dh5

Das ist jetzt stark. 8.d5 Se5 9.Sbd2 e6 mochte ihr nicht gefallen, aber es war bereits die einzige Rettung. Aber auch nur dann, wenn sie hier das selbstmörderisch anmutende 10.h3 gefunden hätte, und dann erst noch nach 10…exd5 den Klassezug 11.Te1, der den Angriff nach 11…Sxf3+ 12.Sxf3 Lxh3 13.gxh3 Lc5 laut Computer übersteht. Alle anderen Partien endeten in einem Desaster mit unter 30% Gewinnprozenten.

8.Le3? e5 9.h3 e4?

9…Lxh3 wäre wegen 10.Sxe5 ein grober Fehler. Aber das da wirft den Vorteil wieder weg.

9…exd4 10.hxg4 Sxg4 hatten wir bereits in einer vorherigen Anmerkung. Schwarz braucht sich nach z.B. 11.Lf4 d3 12.Lxd3 die Figur nicht mit 12…Sb4 zurück zu holen sondern kann mit 12…Ld6 13.Lxd6 Txd6 elegant gewinnen und eventuell sogar auf der h-Linie mattsetzen.

10.hxg4 Sxg4 11.Sh4 f5 12.Lxg4 fxg4 13.g3 g5

Soweit immer die besten Züge und alles leicht verständlich. Aber jetzt war 14.Sf5 der einzige Zug. Der Springer kann gerade nicht angegriffen werden, aber 14…Se5 scheint doch matt zu setzen? Aber natürlich, 15.dxe5 Txd1 16.Txd1 Dg6 und der Springer hat ein Fluchtfeld gefunden, 17.Sd4. Materiell ist Weiss im Vorteil, aber der Angriff nach 17…h5 noch nicht überstanden.

14.Sg2? Td6 15.Sd2 Th6 16.Sh4

Verzweiflung, aber alles andere hilft auch nicht mehr. Natalia wehrt sich noch zähe, aber es ist nichts mehr zu machen.

16…gxh4 17.Lxh6 hxg3 18.fxg3 Lxh6 19.Te1 Sxd4 20.Txe4 Lxd2 21.Dxg4+ Dxg4 22.Txg4 h5 23.Te4 Tg8 24.Kh2 Sf5 25.Tg1 Lb4 26.g4 Ld6+ 27.Kh3 hxg4+ 28.Tgxg4 Th8+ 29.Kg2 Th2+ 30.Kf3 c5 31.Tg8+ Kd7 32.Ta8 a6 33.Kg4 Sd4 34.b4 Tg2+ 35.Kh5 Se2 36.Tee8 cxb4 37.Tad8+ Kc7 38.c5 Sf4+ 39.Kh6 Lxc5 40.Tc8+ Kb6 41.Te4 Sd5 42.Tc4 Le3+ 43.Kh7 a5 44.Tc2 Tg4 45.Tb8 Sf6+ 46.Kh8 Kb5 47.Tf8 Lh6 48.Tb8 Lg7#

Die Partie war nach 14 Zügen vorbei. Öfters einmal das Schicksal von Schrotteröffnungen. Aber halt! Hier hat ja Schwarz gewonnen!

Quizfrage: welches ist der erfolgreichste Zug nach 1.e4 e5 2.Sf3? Zusätzlicher Hinweis: Schwarz macht über 50% der Punkte! Wenn Sie auf 2…d5 getippt haben, kann ich nur gratulieren. Leider gibt es dazu keine GM-Partiebeispiele. Und noch eine Frage. Was ist der zweit erfolgreichste Zug von Schwarz? Richtig, 2…f5. Das war vielleicht zu einfach…

Wenn wir schon beim Quizzen sind. Der erfolgreichste Zug nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5? Richtig. 4.b4. Das wird aber auch von GM gespielt. und macht über alle Partien hinweg 57.5% der Punkte. Wenn beide Spieler über 2200 haben, kommen nur noch knapp über 50% Gewinnprozente heraus. Aber das steigert sich dann. In Partien mit beiden Spielern über 2600 sind es wieder 53%. Kein Wunder hält Nakamura Evans‘ Gambit für das einzig korrekte Gambit.

Aggressive Eröffnungen zahlen sich aus. Aber nicht für jeden, sondern nur für Dilettanten. Sie würden sich noch viel mehr auszahlen, wenn selbige Dilettanten die spezifischen Tricks dieser Eröffnung studieren würden. Tun sie aber nicht, leider.