Siegbert Tarrasch

Siegbert Tarrasch, der „Lehrmeister der Schachwelt“, hat in seinen Schriften die wissenschaftliche Denkweise im Schachspiel betont. Er vertrat die Ansicht, dass das Zentrum mit Bauern besetzt werden müsse, was heftige Polemiken seitens seiner Widersacher Nimzowitsch und Reti hervorrief. Bücher von und über Tarrasch finden Sie hier.

In seinen Lehrbüchern weist er immer wieder auf die Bedeutung des Tempokampfes hin. Il tempo ist italienisch und bedeutet so viel wie Zeit, Geschwindigkeit, Wetter und, in der Musik, Takt. Im Schach haben sich die Begriffe Entwicklungstempo, Angriffstempo und Tempogewinn eingebürgert. Tarrasch führte in seinem Lehrbuch „Das Schachspiel“ die Tempobilanz als Grundlage der Stellungsbewertung ein. Das sah so aus:

  1. Rochade = 1 Tempo
  2. Dame entwickelt = 1 Tempo
  3. Ein Turm auf einer mindestens halboffenen Linie = 1 Tempo
  4. Läufer entwickelt = 1 Tempo
  5. Springer auf der 2. oder 3. Reihe = 1 Tempo
  6. Springer auf der 4. oder 5. Reihe = 2 Tempi
  7. Springer auf der 6. Reihe = 3 Tempi

Dass dies nicht das Mass aller Dinge ist, war auch Tarrasch klar. Die Aufstellung zeigt vor allem eines: Entwicklungszüge sind Tempi. Daraus muss ich, unter anderem,  zwangsläufig ableiten, dass eine Figur in der Eröffnung nicht zweimal gezogen werden soll.

Tarraschs Verhängnis war es gelegentlich, dass er sich bei seinem praktischen Spiel auf die Tempi konzentrierte, wie folgende Partie drastisch zeigt.

Amos Burn – Siegbert Tarrasch

5. DSB-Kongress Frankfurt 1887

 1.e4 e5 2.Sc3 Sc6 3.f4 exf4 4.d4 Dh4+

Entwickelt die Dame und vermiest die weisse Rochade. Das sind 2 Tempi. Hinzu kommt, dass der König dem Läufer und der Dame im Weg steht. Er hat mit einem einzigen Schach 3 Tempi gewonnen.

5.Ke2 g5

Das deckt f4 und eröffnet dem Läufer das Feld g7. Bauernzüge sind nach seiner Theorie nur Tempogewinne, wenn sie nützlich sind. Dies dürfte hier der Fall sein. Dafür geht im nächsten Zug wieder ein Tempo verloren, weil die Dame zum zweiten Mal ziehen muss.

6.Sf3 Dh5 7.Sd5 Kd8

Weiss hat mächtig aufgeholt: Springer auf der fünften und die Rochade verdorben. Das sind ganze 3 Tempi. Aber der Tempokampf geht weiter, denn irgendwann muss Weiss mit Tempoverlust den König nach f2 ziehen; sinnvollerweise hätte er das am besten gleich getan, aber wahrscheinlich wollte er den König nach c2 bringen. 8.c3 ist schwächer. Laut Tarraschs These müsste Schwarz längst auf Gewinn stehen.

8.c3

Eine interessante Stellung. Im Tempokampf naheliegend wäre 8…Sge7; wenn Weiss dann tauscht, vernichtet er zwei Tempi (Springer auf der fünften Reihe). Aber wenn er stehen bleibt, z.B. mit 9.Kd2, dann kostet ein Abtausch auf d5 wieder ein Tempo, weil der Sc6 ziehen muss.

8…d6 9.Kd2 Lh6 10.Kc2 bringt tempomässig gar nichts, weil dann der weisse Königsläufer auf d3 oder c4 ein hübsches Plätzchen findet, ganz im Gegensatz zum kümmerlichen Lh6.

Der stärkste Zug war 8…Sce7. Ich bin sicher, dass Tarrasch das überhaupt nicht in Betracht gezogen hat, weil man in der Eröffnung nicht zweimal mit der gleichen Figur zieht. Der Zug wäre aber nach seiner Tempokampf-Theorie angebracht gewesen, weil dann nach einem eventuellen Abtausch auf d5 auf c6 nichts hängt und er wieder einen Entwicklungszug frei wählen kann.

Auch 8…f5 kam stark in Betracht. Aber dann müsste er nach 9.e5 wieder 9…Sce7 sehen. Dieser Zug war für einen Tarrasch so gut wie unsichtbar.

Tarrasch spielt die Eröffnung nach allgemeinen Erwägungen, er entwickelt mechanisch eine weitere Figur.

8…Lg7 9.Kf2 Sf6

Noch so ein Entwicklungszug. 9…Sce7 wäre bereits dringend notwendig gewesen.

Jetzt käme Weiss mit dem natürlichen 10.Ld3 bereits in Vorteil: 9…Sxd5 10.exd5 Se7 11.d6 cxd6 12.Se5!. Er zieht es vor, das „Angriffs-Tempo“ e4-e5 zu gewinnen.

10.Sxf6 Lxf6 11.e5 Lg7?

11…Le7 war notwendig, was den folgenden Trick vermeidet. Es ist scheinbar alles in Ordnung. Schwarz ist mit 2 Tempi im Vorteil und hat erst noch einen Bauern mehr.

Tarrasch kommentiert diese Partie in den 300 Schachpartien. Das Einzige, was er zur Eröffnung zu sagen hat, ist, dass 8.c3 schwach ist, ohne einen Gegenvorschlag anzugeben, und hier, dass Schwarz „aus den Gefahren der Eröffnung mit einem Bauern mehr bei sicherer Stellung“ hervorgegangen ist, und dass der nächste Zug von Weiss „durch welchen der weisse König zu sehr entblösst“ wird, „zu schnellem Verlust hätte führen können“. Tarrasch hatte keinen Houdini, aber das ist dann doch eine dilettantische Betrachtung.

12.g4 fxg3+ 13.Kg2 h6 14.hxg3 Dg6 15.Ld3 f5

Was ist denn hier passiert? Weiss hat mit einem simplen Trick ein paar Tempi gewonnen, die Tempobilanz steht jetzt ausgeglichen 3:3, weil plötzlich ein Turm auf einer halboffenen Linie aufgetaucht ist, aber Schwarz hat ja immer noch einen Bauern mehr…

Weiss konnte trotz aller Tempobilanzen mit 16.exf6 Dxf6 17.Sxg5 forciert gewinnen.

17…hxg5 18.Txh8+ Lxh8 19.Dh5 und gewinnt. Gegen die Drohung 18.Lg5 nebst eventuell 19.Tf1 ist nichts zu erfinden.

Tarrasch hat seine Stellung durch die Entwicklungszüge 8…Lg7 und 9…Sf6 verdorben, und auch dadurch, dass es für ihn nicht in Betracht kam, mit 8. oder 9…Sce7 eine Figur zweimal zu ziehen.

Hier noch der Rest der Partie:

16.g4? d6 17.exd6 cxd6 18.Db3 Tf8 19.Ld2 Df7?

Schwach. Selbstverständlich muss 19…Df6 kommen. Weiss muss jetzt die Damen tauschen. 20.Dxf7 Txf7 21.Lc4 Tf8 22.Sxg5, mit Vorteil, denn 22…hxg5 würde wegen  23.Lxg5+ Lf6 24.Th8! verlieren. Statt dessen macht Burn seinerseits einen Verlustzug.

20.Lc4? Dc7?

Es geht hin und her. Nach 20…Df6 stünde er wieder auf Gewinn.

21.Ld3? f4 22.Sh2 Ld7 23.Tae1 Db6 24.Dc2 Tc8 25.Db1 Kc7 26.Le2 Tce8 27.Lf3 Kc8 28.b3 Dd8 29.b4 Txe1 30.Lxe1 Df6 31.Lf2 Kb8 32.Sf1 d5 33.Sd2 Se7 34.b5 Db6 35.a4 Dg6 36.Db4 Te8 37.Sb3 Sc8

Tarrasch hat seine Gewinnstellung konsequent herunter gewirtschaftet. Die Chancen stehen gleich.

38.Sc5 Dd6 39.a5 Lf8 40.Db3 Td8?? 41.a6 bxa6 42.Sxa6+ Kb7 43.Lxd5+ Kb6 44.c4 1–0

Ich zitiere Tarrasch höchstpersönlich, aus seinem Vorwort zur „Modernen Schachpartie“, erschienen 1912:

„Welchen Aufschwung die Schachkunst in den letzten Jahrzehnten genommen, wie sehr sich das allgemeine Niveau der Spielstärke und der wissenschaftlichen Behandlung der Schachpartie gehoben hat, zeigt sich so recht, wenn man eine Partiensammlung aus früherer, selbst noch gar nicht so lange zurückliegender Zeit, etwa das Buch des Pariser Turniers vom Jahre 1878, kritisch betrachtet. Man findet in der Mehrzahl der Partien einen solchen Dilettantismus in Auffassung und Technik, dass es nicht zu gewagt ist, wenn ich erkläre, das damalige Niveau der Meister habe ungefähr dem der besseren Hauptturnierspieler von heutzutage entsprochen.“

Dem kann ich – ganz ohne Zynismus – beipflichten. Tarrasch war zum Zeitpunkt dieser Partie 26 Jahre alt, und bereits Weltmeisterschafts-Kandidat. Mit solchen Partien würde er in heutigen Hauptturnieren nicht weit kommen. Er hat aber in positionellen und technischen Stellungen weitaus besser gespielt – wissenschaftlich eben. In der besprochenen Partie war er ganz auf seine eigene Intuition und Berechnung gestellt, er hatte keinerlei „wissenschaftliche“ Methoden – ausser der nutzlosen Tempobilanz – zur Hand, und versagte jämmerlich.

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