Hans Berliner

Flexibilität

Hans Berliner  (geboren 1929 tatsächlich in Berlin) war der 5. Fernschachweltmeister 1965-68. Er spielte damals rund hundert Fernschachpartien und gewann im Schnitt neun von zehn Partien. Eine Verlustpartie ist mir nicht bekannt.

Berühmt ist seine „Fernpartie des Jahrhunderts“ gegen seinen Vorgänger als Weltmeister, Jakow Estrin. Computer beweisen, dass sie beidseits schwach gespielt ist.

Er entwickelte eines der ersten Schachprogramme. 1999 erschien sein Buch „The System“, in welchem er behauptet, dass Weiss nach 1.d4 auf Gewinn steht.

Berliner ist der Prophet der Flexibilität. Sein System – pardon – Das System besteht im wesentlichen aus Flexibilität, und er „widerlegt“ einige Eröffnungen. Schon wieder falsch, zu widerlegen gibt es gar nichts, denn Weiss gewinnt ja eh. Es handelt sich viel mehr um untaugliche Versuche, den Verlust abzuwenden, zum Beispiel im Grünfeld:

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Lc4 c5 8.Se2 Sc6 9.Le3 0-0 10.Tc1 Da5 11.Kf1. Weiss wird im folgenden mit h4-h5 die schwarze Königsstellung aufrollen und einen unwiderstehlichen Königsangriff starten.

Oder im Damengambit:

1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sc3 Sf6 4.cxd5 exd5 5.Lg5 Le7 6.e3 c6 7.Dc2 Sbd7 8.Ld3 0-0 9.Se2.

Er propagiert damit im wesentlichen Botwinniks Strategie in der Karlsbader Struktur. Gut möglich, dass Hans hier recht hat.

Es ist natürlich Quatsch, dass Weiss in der Grundstellung gewinnt. Aber die Idee der Flexibilität hat Hand und Fuss.

Flexibilität bedeutet, dass ich mir möglichst viele Optionen offen halte. Berliner argumentiert so:

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7

In dieser Stellung muss entweder der Lf1 oder der Sg1 ziehen. Der korrekte Zug ist laut Berliner 7.Lc4, denn diesen Zug muss ich sowieso machen, aber danach kann ich zwischen 8.Sf3 und 8.Se2 wählen. Ich erhöhe somit die Zahl meiner Optionen.

In dieser Stellung ist diese Ansicht höchst diskutabel, vielleicht ist ja 7.Sf3 der Sowieso-Zug;  der überlässt dem Läufer sogar 4 Zugmöglichkeiten, e2, d3, c4 und b5. Ganz abgesehen davon kommt es kaum einem in den Sinn, den Springer nach 7.Lc4 c5 nicht nach e2 zu stellen. Das hat Herr Berliner wohl nicht bedacht.

Immerhin ist das Prinzip klar. In vielen Partiekommentaren wird darauf hingewiesen, dass dieser oder jener Zug „weniger verpflichtend“ gewesen wäre. Implizit bedeutet dies, dass verpflichtende Züge meine Optionen einschränken, und es eine gute Strategie ist, sich nicht zu verpflichten.

Es ist immer nützlich, sich möglichst viele Optionen offen zu halten, im Angriff wie in der Verteidigung;  insbesondere dort ist es geradezu überlebensnotwendig. Wie Tarrasch schon sagte „Wer keine guten Züge hat, muss schlechte machen.“

Über Flexibilität sollte man sich auch in unscharfen, abstrakten Stellungen Gedanken machen. In jeder Partie kommen Sowieso-Züge, das sind die eigentlich flexiblen Züge, verpflichtende Züge und einschränkende Züge vor. Sowieso-Züge optimieren die eigene Flexibilität, verpflichtende reduzieren sie, und einschränkende reduzieren die Flexibilität des Gegners, das ist sozusagen der Idealfall.

Hans Berliner zog sich 1963 vom Turnierschach zurück. Eine seiner letzten Turnierpartien verlor er gegen Bobby Fischer. Dass seine Ideen lange vor 1999 gereift sind, zeigt die folgende Partie.

Hans Berliner – Pal Benkö
USA-ch New York (9), 29.12.1962

1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 d5 4.cxd5 Sxd5 5.e4 Sxc3 6.bxc3 Lg7 7.Lc4 0–0 8.Se2 Sc6 9.h4

Für einen, der sein Buch gelesen hat, ganz selbstverständlich.

9…Sa5

Er erkennt, dass er sich nach 10.Ld3 c5 11.Le3 cxd4 12.cxd4 Sc6 für die Verteidigung von d4 verpflichtet. Ganz zu schweigen davon, dass Schwarz nach 13.Lc4 Sa5 remis erzwingen kann. Sein nächster Zug ist daher flexibler.

10.Lb3 c5

Damals war ein Zug wie 10…h5 keine Option.

11.h5 cxd4 12.hxg6

Wahrscheinlich ein Versehen. Nach 12…Sxb3 13.axb3 wäre seine Gewinnstrategie auf der h-Linie  wegen dem Zwischenzug 13…d3 geplatzt. 14.gxh7+ Kh8 15.Sf4 Lxc3+ 16.Ld2 Dd4 17.Ta4 Dg7 mit komplizierter Stellung.

11…hxg6 13.cxd4 Sxb3 14.Dxb3

Seine Dame drängt mit aller Macht auf die h-Linie, aber Benkö hat etwas dagegen.

14…Lg4 15.f3 Le6 16.Db5 Tc8 

Eine nette Finesse. Auf 17.Lh6 Tc2 18.Dg5 Lf6 lösen sich Berliners Träume in Luft auf. Aber seine Dame ist ja ihrem Ziel ganz nah…

17.Dg5?!

… und tatsächlich verpasst Benkö 17…Tc2, die Pointe seiner Finesse. 18.Dh4 Da5+ 19.Kf2 Dh5 20.Dxh5 gxh5, wonach h5 tabu ist und sich Weiss um die Drohungen 21…Lxd4 und 21…Lc4 kümmern muss. Nach 21.Td1 Td8 steht er schlecht.

Unglaublich, wie unflexibel der Flexibilitäts-Apostel spielt. Dadurch, dass er auf Teufel komm raus in der h-Linie angreifen will, ruiniert er seine Stellung.

17…Lc4? 18.Dh4 Da5+ 19.Ld2 Dh5 20.Dxh5 gxh5 21.Txh5 Tfd8 22.Lh6

Mit diesem Zug vergibt er seine Gewinnchancen. Er hätte mit 22.Tc1 den d-Bauern indirekt verteidigen können. Die Partie versandet ins Remis.

22..Lxh6 23.Txh6 e6 24.e5 Lxe2 25.Kxe2 Tc2+ 26.Kd3 Txg2 27.Tah1 Kg7 28.Th7+ Kf8 29.Th8+ Ke7 30.Txd8 Kxd8 31.Th8+ Ke7 32.Tb8 Txa2 33.Txb7+ Kf8 ½–½

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