Ich löse gelegentlich Kombinations-Aufgaben auf Lichess. Ich bin ein guter Löser mit über 2500 Wertungspunkten. Das liegt an meiner Sorgfalt, die ich aber erst lernen musste. Lichess-Aufgaben werden vom Computer aus Partien ausgesucht und es gibt immer nur einen einzigen besten Zug, egal, wie lange die Aufgabe dauert. Ich bin im Lösen erst besser geworden, als ich gelernt hatte, mich mit jedem Zug neu zu orientieren und die neue Stellung wieder als neue Aufgabe zu betrachten.
Alshamrdal – Clydefrog, Rapid 15’+0“, Lichess 2016
1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.Lc4 Sd7 4.d4 exd4 5.Sxd4 Le7 6.f4 Sgf6 7.Sc3 O-O 8.Sf5 g6 9.Sxe7+ Dxe7 10.O-O Sb6 11.Ld3 Lg4 12.De1 Tae8 13.Dh4 Ld7 14.f5 d5 15.Lh6 dxe4 16.Le2 Sfd5 17.Dxe7 Txe7 18.Lxf8 Kxf8 19.Sxd5 Sxd5 20.Tad1 Se3 21.f6 1-0
1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.Lc4 Sd7 4.d4 exd4 5.Sxd4 Le7??
Ich brauchte geschätzte 3 Sekunden um diese Aufgabe zu lösen:
6.Lxf7+ Kxf7 7.Se6 Kxe6 8.Dd5+ Kf6 9.Df5#
Selbstverständlich lässt der Computer das Matt nicht zu und zieht 7…Sgf6. Der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe wird mit 2306 angegeben. Also eine schwierige Aufgabe, diese Zahl wird aufgrund der Anzahl und Elo der Spieler berechnet, die sie lösen können – oder eben nicht. 2306 bedeutet, dass sehr viele Spieler sie eben nicht lösen können.
Beide Spieler hatten um die 2000 Lichess-Elo. Das heisst, dass sie im wahren Leben um 1700-1800 haben, die Lichess-Zahlen sind stark überwertet. Das gibt mir Gelegenheit ein wenig über die Spielauffassung der Hobby-Spieler zu lästern.
Zur Eröffnung ist zu sagen, dass man nach 3…Sd7 nicht 4…exd4 spielt, aber das ist kein eigentlicher Fehler, denn nach dem korrekten 4…Sf6 ist die Stellung immer noch halbwegs spielbar. Im Philidor macht man gemeinhin Le7 vor Sf6, um Tricks mit weissem Sg5 auszuschalten. Dies ist aber hier witzlos. Ich habe öfters Partien gegen schwächere Gegner. Es ist auffällig, dass sie gerade in 1.e5 e5 Eröffnungen meist nach 10 Zügen auf Verlust stehen, aber dieselben Züge das nächste Mal wiederholen. Eine gewisse Lernresistenz ist ihnen nicht abzusprechen.
Eine zweite Kategorie von Spielern haben irgend eine Patenteröffnung, in der sie ihre Schema-Züge herunterspulen, egal ob sie gerade gut oder schlecht sind. Auf jeden Fall machen sie ihre Züge nach Augenmass und verzichten darauf, Drohungen zu beachten und mögliche Gegenzüge auf ihren beabsichtigten Zug zu prüfen. Sie glauben mir nicht? Dann sehen Sie sich den Rest dieser Partie an.
6.f4?? Sgf6 7.Sc3 O-O 8.Sf5?
6.f4 war suboptimal. Aber f2-f4 ist ja ein Zug, den Patzer vehement anstreben, und hier gab es ihn sozusagen gratis.
8.Sf5 war eben einer dieser Züge nach Augenmass. Ein schöner Zug, der einfach gemacht werden muss. Auch hier genügt ein Blick, um zu erkennen, dass 8…Sb6 Läufer und Springer angreift. Geht der Läufer weg, etwa 9.Le2, kommt 9…Lxf5 10.exf5 d5 mit Gewinnstellung. Man könnte sich nach 9.Le2 auch 9…Sxe4 überlegen, um einen Bauern zu gewinnen, aber das relativiert sich nach 10.Sh6+ gxh6 11.Sxe4. Somit sollte Weiss tauschen. 9.Sxe7+ Dxe7, aber jetzt verliert er den e-Bauern, weil zunächst noch der Läufer hängt. Eine Mustervariante: 10.Ld3 Lf5 11.De2 Sxe4 12.Sxe4 Lxe4 13.Dxe4 Dxe4+ 14.Lxe4 Tfe8. Eine indirekte Folge von 6.f4.
8…g6? 9.Sxe7+ Dxe7 10.O-O Sb6 11.Ld3 Lg4?
Er hatte eine letzte unentwickelte Leichtfigur, den Läufer, also entwickelt er den. Ausgerechnet auf ein Feld, wo er durch f4-f5 eingeklemmt und mit der Dame angegriffen werden kann. Die Lage des Schwarzen war objektiv bereits hoffnungslos, aber subjektiv wohl noch nicht. Er hätte 11…d5 12.e5 Se8 versuchen können.
12.De1 Tae8 13.Dh4 Ld7 14.f5 d5
Um auf 15.Lg5 ein Schach zu haben, 15…Dc5+ und dann den Springer wegzuziehen. 16.Kh1, aber wohin? 16…Sxe4 17.Lxe4 Txe4 18.Sxe4 dxe4 19.Le7 verliert Haus und Hof. 16…Sh5 17.g4 Sg7 18.Dh6 und der Springer hat keinen Sauerstoff. Etwa 18…Dd6 19.f6 Se6 20.exd5.
15.Lh6?! dxe4 16.Le2?
Es gab keinen Grund, e4 nicht zu nehmen. 16.Lxf8 Dxf8 17.Lxe4.
16…Sfd5 17.Dxe7 Txe7 18.Lxf8 Kxf8 19.Sxd5 Sxd5 20.Tad1 Se3??
Nach 20…Te5 oder 20…Lc6 hätte er überlebt, und wer weiss?
21.f6 1-0
Dies war eine Rapidpartie und hat vielleicht 15-20 Minuten gedauert. Man kann nicht behaupten, dass die Spieler viel gesehen haben. Doch, sie haben viele Schablonenzüge gesehen. Aber die sind nicht die Essenz des Spiels. In dieser Partie hätte es genügt, harte Drohungen zu finden und zu prüfen. Kandidatenzüge zu vergleichen war nicht einmal nötig. Viele Patzer greifen alles an, was irgend möglich ist, aber sie vergessen die Züge zu prüfen und übersehen dabei Drohungen oder laufen in Gegendrohungen oder Kombinationen hinein.
Nun, weshalb konnte ich diese Aufgabe so schnell lösen? Es gibt zwei Gründe. Erstens habe ich mir angewöhnt, routinemässig Schachs und zwingende Züge immer anzusehen. Diese Aufgabe ist eine Folge von Schach, Angriff auf die Dame, Schach und Matt. Das steht ganz oben in der Zwingende-Züge-Skala. Zweitens kannte ich natürlich die folgende Partie.
Bobby Fischer – Sammy Reshevsky, U.S. Championship, N.Y. 1958
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 g6 5.Sc3 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Lc4 O-O 8.Lb3 Sa5 9.e5 Se8 10.Lxf7+ Kxf7 11.Se6 dxe6 12.Dxd8 Sc6 13.Dd2 Lxe5 14.O-O Sd6 15.Lf4 Sc4 16.De2 Lxf4 17.Dxc4 Kg7 18.Se4 Lc7 19.Sc5 Tf6 20.c3 e5 21.Tad1 Sd8 22.Sd7 Tc6 23.Dh4 Te6 24.Sc5 Tf6 25.Se4 Tf4 26.Dxe7+ Tf7 27.Da3 Sc6 28.Sd6 Lxd6 29.Txd6 Lf5 30.b4 Tff8 31.b5 Sd8 32.Td5 Sf7 33.Tc5 a6 34.b6 Le4 35.Te1 Lc6 36.Txc6 bxc6 37.b7 Tab8 38.Dxa6 Sd8 39.Tb1 Tf7 40.h3 Tfxb7 41.Txb7+ Txb7 42.Da8 1-0
1.e4 c5 2.Sf3 Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 g6 5.Sc3 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Lc4 O-O 8.Lb3 Sa5 9.e5 Se8
Das ist bisher in Turnieren über 20 Mal vorgekommen. Die Schwarzspieler kamen aus allen Stärkeklassen, vom Patzer zum GM. Reshevsky war fünf Jahre vorher noch Weltmeisteranwärter und der gefährlichste ‚westliche‘ Konkurrent von Keres, Smyslow, Bronstein & Co. Die Kombination wird seither Fischer-Falle genannt, obwohl sie bereits in Bastrikow-Schamkowitsch, Sotschi 1958 vorkam. Schamkowitsch tat das Klügste, er gab nach dem nächsten Zug von Weiss auf. Offenbar handelt es sich doch um eine schwierige Kombination, da doch einige GM darauf hineingefallen sind.
10.Lxf7+ Kxf7
Nach 10…Txf7 oder 10…Kh8 gewinnt 11.Se6 die Dame.
11.Se6 dxe6
Denn nach 11…Kxe6 12.Dd5+ Kf5 13.g4+ Kxg4 14.Tg1+ Kh4 15.De4+ wird er mattgesetzt.
12.Dxd8 1-0
Den Rest schenken wir uns, obwohl Reshevsky noch bis zum 42. Zug durchhielt.
Das routinemässige Checken von scheinbar idiotischen zwingenden Zügen nenne ich Larrys Regel. Zwingende Züge sollten so oder so geprüft werden. Es könnte ja sogar sein, dass vermeintlich idiotische gar nicht idiotisch sind.
Nachtrag: Gerard Welling hat mich in diesem Zusammenhang auf folgende kleine Partie aufmerksam gemacht.
Walther Von Holzhausen – Siegbert Tarrasch
Frankfurt, 7 Oktober 1912 (Simultan von Tarrasch)
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.d4 exd4 5.O-O d6 6.Sxd4 Le7 7.Sc3 O-O 8.h3 Te8 9.Te1 Sd7 10.Lxf7+ Kxf7 11.Se6 Sde5 12.Dh5+ Kg8 13.Sxd8 Txd8 14.Sd5 1-0
Holzhausen war ein Deutscher Problemkomponist und hat 1928 das bedeutende Standardwerk „Logik und Zweckreinheit im neudeutschen Schachproblem“ verfasst.
Apropos Lernen bzw. Lernresistenz. Ich hatte kürzlich drei Partien mit Weiss gegen den gleichen Spieler, ein paar Tage auseinander.
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 g6 6.Le3 Lg7 7.f3 O-O 8.Dd2 Sc6 9.Lc4 Sd7 10.O-O-O Sa5
Natürlich zog ich 11.Lxf7+ Txf7 12.Se6 De8.
In der ersten Partie war ich naiv und stand nach 13.Sc7 Df8 14.Sxa8 Sc4 auf Verlust, weil 15.De2 Sxe3 16.Dxe3 an 16…Lh6 scheitert.
In der Zwischenzeit hatte ich mir das angesehen und zog in der zweiten Partie 13.Sxg7 Kxg7 14.Sb5, die Pointe. Der Springer hängt und es droht 15…Sc7. Somit 14…Dd8 15.Dc3+ Kg8 16.Sc7 und ich gewann, indem ich den Sa8 retten konnte. So einfach wäre es aber nicht, denn er kann ihn einsperren, braucht aber zu viel Zeit um ihn abzuholen. Das Rezept lautet 16…Sc6 17.Sxa8 Sde5 18.h4 Ld7 19.h5 Dxa8 20.f4 mit Mattangriff.
Das hinderte meinen Gegner nicht, es ein drittes Mal zu probieren, er versuchte nun nach 13.Sxg7 Kxg7 14.Sb5 Dd8 15.Dc3+ die Neuerung 15…Sf6, was nach 16.Sc7 Sc6 17.Sxa8 Ld7 so halbwegs spielbar ist. Selbstverständlich spielte ich 16.e5 Se8 17.exd6+ und gewann leicht.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass er seine Patenteröffnung weiterhin spielen wird, weil seine Gegner schablonenhaft 11.Lb3 machen und dann 11…Se5 gar nicht so übel ist.
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 g6 6.Le3 Lg7 7.f3 O-O 8.Dd2 Sc6 9.Lc4 Sd7 10.O-O-O Sa5 hat übrigens eine ausgezeichnete Turnierbilanz. Im Prinzip kämen auch 10…Sde5 und 10…Sb6 mit derselben Idee in Frage.
Auf 10…Sde5 ist 11.Le2 Sa5 12.b3 die korrekte Antwort. Alles andere als schablonenmässig. Die meisten spielen halt eben die Schablone 11.Lb3, nach 11…Sa5 hat Schwarz sein Ziel erreicht.
Auch auf 10…Sb6 ist 11.Le2 Sa5 12.b3 die passende Antwort. Aber 90% der Spieler machen 11.Lb3?! Sa5 12.Dd3 Sxb3+, und jetzt immerhin 13.cxb3, was 13…a5 etwas entschärft.
Nachtrag: Gerade (etwa zwei Wochen später) hat derselbe Spieler wieder einmal gegen mich gespielt. Es kam wiederum
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 g6 6.Le3 Lg7 7.f3 Sc6 8.Dd2 O-O 9.Lc4 Sd7 10.O-O-O Sa5.
Ich lag also richtig in der Annahme, dass er nichts lernen und dasselbe ad Infinitum wiederholen und keinesfalls etwa eine meiner angesprochenen Verbesserungen probieren würde. Aber nun dachte ich, er hätte sein Spiel verbessert und vergass, dass jetzt 11.Lxf7+ Txf7 12.Se6 De8 13.Sxg7 Kxg7 14.Sb5 Dd8 15.Dc3+ Sf6 16.e5 angebracht gewesen wäre. Ich spielte dann meine Empfehlung für die 10…Sb6 und 10…Se5-Variante, was auch gut ist.
11.Le2 Sb6 12.b3 d5?
Das kam wie aus der Pistole geschossen. Der beste Zug wäre 12…a6, was e5 droht und damit 13.h4 verhindert. Nun müsste Weiss mit 13.Ld3 dem Springer ein Feld verschaffen und weiter auf Angriff mit h2-h4-h5 hoffen.
Ich machte hier den viertbesten Zug 13.exd5 Sxd5 14.Sxd5 Dxd5 15.Sb5 Dxd2+ 16.Txd2 und gewann nach dem groben Fehler 16…e5?? mit 17.Sc7.
Der Computer sagt mir aber, dass 13.h4 absolut vernichtend ist und es +3 steht. Zur Begründung gibt er an, dass 13…dxe4 14.Sxe4 Sc6 mit Damentausch seine beste Chance ist. 15.Sxc6 Dxd2+ 16.Txd2 bxc6 17.c4. Diese Stellung schätzt der Computer als gewonnen ein. Das ist mir nun gar nicht ersichtlich. Ich habe nicht mal einen Bauern mehr. Es ist ein Phänomen der neuen Software-Generationen (aktuell Stockfish 12), dass sie Stellungen als gewonnen taxieren, in denen der Laie nicht mal einen Vorteil sieht. Da ich diese Stellung wohl kaum je wiedersehen werde, erübrigt sich eine Analyse. Wenn ich hier wirklich was lernen wollte müsste ich mir von Stockfish zeigen lassen wie er die plausiblen Antworten 17…h5, 17…Sd7 und 17…f5 18.Sc5 a5 kaputt zu machen gedenkt und mir eine verbale Erklärung, sprich: eine Erzählung, zurechtlegen an die ich mich dann erinnern könnte. Oder dass ich einen Vortrag vorbereiten würde, in welchem ich erkläre weshalb das für Schwarz verloren ist.
Leider ist mein Gedächtnis zu schwach und das selbstverständliche 11.Lxf7+, das ich früher einmal auf Anhieb gefunden hatte war ‚dank‘ meines Lernwillens daraus entfallen. Ebenso hatte ich die Pointe meines angelernten Manövers 11.Le2 nebst 12.b3 vergessen, nämlich den Angriff mit dem h-Bauern. Hingegen denke ich, dass die Super-GM genau so arbeiten. Wenn sie sich wundern, weshalb der Computer in dieser oder jener Stellung einen Gewinn reklamiert, sehen sie sich die Sache an und legen sich dazu eine Geschichte zurecht. Welche sie dann wegen ihres Mammut-Gedächtnisses auch behalten können. Topspieler kennen ein paar Tausend Partien auswendig. Mit Begründungen und Nebenvarianten.