Wüestsche Powerzüge

Ich diskutiere gern und viel mit dem Luzerner Schachlehrer Andrin Wüest über Denkmethoden im Schach. Wir sind uns einig, dass Anfänger- und Fortgeschrittenen-Lehrbücher den Schachschülern ein falsches Bild davon vermitteln, worauf es beim praktischen Schach ankommt.

Wie finde ich effizient gute Züge? Andrin hat aufgrund unserer Diskussionen und meiner Publikationen einen Leitfaden entwickelt. Zunächst gilt das allgemeine Denkmuster:

  1. Gegnerische Drohungen entdecken.
  2. Eigene Gegendrohungen finden.
  3. Kandidaten-Züge überprüfen.
  4. Zug wählen.

Für die Punkte 1-3 wendet er immer das gleiche Schema an:

  1. Schachgebote
  2. Mattdrohungen
  3. Figuren schlagen
  4. Angriffe auf Figuren

Die Angriffe auf Figuren sollten in der Reihenfolge des Figuren-Wertes – Dame, Turm, Läufer/Springer, Bauern – überprüft werden.

Er nennt diese Züge „Powerzüge“ und erwähnt insbesondere, dass Wladimir Kramnik gesagt hat, dass er zwei Drittel seiner Bedenkzeit damit zubringt, die Möglichkeiten seines Gegners zu studieren. Kramnik wird deshalb von vielen Autoren als „Meister der Prophylaxe“ bezeichnet. Das ist meines Erachtens falsch. Das Betrachten der gegnerischen Drohungen ist einfach die beste Informationsquelle dafür, gute eigene Züge zu finden. Kramniks Druckspiel war keineswegs darauf ausgerichtet, gegnerische Pläne zu verhindern, sondern darauf, sie in seine Berechnungen einzubeziehen.

Ich habe die Powerzüge bei Kombinations-Aufgaben ausprobiert, da funktionieren sie ausgezeichnet. Das ist nicht so selbstverständlich wie es tönt. Im Allgemeinen fällt einem nämlich bei einer Aufgabe sofort ein bestimmter Zug ins Auge, der aber dann in aller Regel nicht funktioniert. Dazu ein Beispiel.

Erling Mortensen – Lars Karlsson, Esbjerg 1998
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Se7 7.Dg4 O-O 8.Ld3 c4 9.Lh6 Sg6 10.Lxg6 fxg6 11.Le3 Sc6 12.h4 De8 13.h5 gxh5 14.Txh5 Se7 15.Sf3 Tf5 16.Th2 Dg6 17.Dh4 Sc6 18.O-O-O Ld7 19.Tdh1 h6

8…c4 war ein ‚beliebter‘ theoretischer Fehler, aber das ist hier nicht das Thema. Weiss steht komplett auf Gewinn und sollte sich gemäss Andrins Leitfaden erst einmal die Drohung ansehen. Schach hat Schwarz keines, Mattdrohungen auch nicht, Figuren schlagen geht: 20…Txf3, okay, Weiss nimmt. 21.gxf3. Schach: 21…Dxc2 ist idiotisch. Mattdrohung 21…Sxd4 oder 21…Sb4, Weiss frisst, dann droht 22…La4 wieder Matt, und zwar undeckbar. Undeckbar? Nein, Punkt 3, Überprüfen. 21…Sxd4? 22.Dxd4 La4 23.Dd2. Also 21…Sb4. Nochmals durchchecken. Nein, der König kommt auf wundersame Weise nicht aus dem Käfig heraus.

Nun, Weiss hielt sich nicht an Regel Nr. 1 und wurde hart bestraft. Er hätte die Drohung sehen müssen, sie mit 20.Se1 respektieren sollen, und dann Schwarz gemächlich mit einem Läuferopfer auf h6 erledigen können. 20…Le8 21.g4 Tf8 22.Dg3 De4 23.Kb2 b5 24.Lxh6 gxh6 25.Txh6 und gewinnt.

20.Th3?? Txf3 21.Txf3 Sb4 0-1

Hier gab Mortensen auf. Dieselbe Partie ereignete sich im selben Jahr in Paris zwischen Robert Timmer und Manuel Apicella. Timmer setzte den aussichtslosen Widerstand fort: 22.Kd2 Dxc2+ 23.Ke1 Db1+ 24.Lc1 Dxc1+ 25.Ke2 Dxc3 26.Kf1 Sd3 27.Tg3 De1+ 28.Kg2 Dxf2+ 29.Kh3 Tf8 0-1

Dieses Beispiel ist mir im Gedächtnis haften geblieben, weil ich es auf den ersten Blick gelöst hatte. Es gehört nämlich zu der Kategorie, in welcher der Zug, der einem zuerst einfällt, auch funktioniert. Und da es sich schliesslich um eine Kombinationsaufgabe handelte, hatte ich keine Zweifel, dass der Zug auch funktionieren würde. In der Praxis sieht es hingegen anders aus.

Robin Girard – Benoit Saint-Pierre
Montreal 1996
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Lc4 e6 7.Lb3 a6 8.Le3 Dc7 9.f4 b5 10.O-O Le7 11.f5 Sxd4 12.Lxd4 O-O 13.Df3 e5 14.Le3 Lb7 15.a3 Lc6 16.g4 Db7 17.Tad1 b4 18.axb4 Dxb4 19.g5 Sd7 20.g6 Sf6 21.Lxf7+ Txf7 22.gxf7+ Kxf7 23.Lg5 Sxe4 24.Dh5+ Kg8 25.Le3 Sxc3 26.bxc3 De4 27.Dh3 Lh4 0-1

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 Sc6 6.Lc4 e6 7.Lb3 a6 8.Le3 Dc7 9.f4 b5 10.O-O Le7 11.f5 Sxd4

Es drohte 12.fxe6. Die Gegendrohung 11…b4 funktioniert zunächst wegen 12.Sxc6 Dxc6 13.La4 nicht. Nach der Fressregel 12…bxc3 frisst auch Weiss weiter: 13.Sxe7, jetzt nicht 13…Kxe7, was ‚einfach so‘ schwach ist , sondern 13…cxb2 aber auch da frisst Weiss weiter, 14.Sxc8 und nach 14…bxa1=D 15.Sxd6+ behält er eine Figur mehr.

Ich bin auf diese Partie gestossen, weil in einer Blitzpartie mein Gegner 11…e5 zog. Nach 12.Sxc6 Dxc6 und einer halben Minute Überlegung wählte ich den Zug, der die Dame angreift. 13.Ld5! Sxd5 14.Sxd5 Ld8 15.Dg4 mit Gewinnstellung. 13.Sd5 wäre schwächer gewesen.

12.Lxd4 O-O

Das ist ein theoretischer Fehler. Nach 13.fxe6 fxe6 14.a3 steht Weiss besser.

Es musste sofort 12…e5 kommen. Nach 13.Le3 Lb7 14.a3 haben wir eine weitere Gelegenheit, die Wüestsche Methode zu testen. Geht 14…Sxe4 oder geht es nicht? 15.Sd5 greift die Dame an. Der Springer ist wegen Dxd5 mit Dreifachdrohung tabu. 15…Dc6, und was jetzt? Es ist sehr kompliziert. 16.Dg4 läuft in den Gegenangriff 16…Sf6 hinein. Aber 16.Dh5 droht 17.Sxe7. Schwarz hat keine gute Antwort. Noch besser wäre laut Stockfish allerdings 16.c4 mit der Drohung 17.Tc1, und 16…bxc4 geht wegen 17.La4 nicht.

13.Df3 e5 14.Le3 Lb7 15.a3

Wir sind durch Zugumstellung zu einer Allerweltsstellung gekommen. Hier wurden mehrere Züge schon ausprobiert, auch der Textzug, der Druck auf e4 macht.

15…Lc6 16.g4 Db7

Dies ist die einzige Partie, in der das freche 16.g4 vorkam. Aber besonders bemerkenswert ist sie wegen dem nächsten Zug von Weiss.

Schwarz droht offensichtlich 17…Sxe4. Der Bauer kann nur durch Sd5 oder Ld5 gedeckt werden. Dann schlägt Schwarz so lange auf d5, bis der e-Bauer wiedernimmt, und Schwarz wird keinerlei Probleme haben.

17.Tad1!

Das verhindert 17…Sxe4 gleich doppelt: Weiss gewinnt mit beiden Angriffen auf diesen Springer: 18.Sd5 Sc5 19.Sxe7+ Dxe7 20.Dxc6 oder 18.Ld5 Sxc3 19.Lxc6.

17…Lxe4 scheitert an Regel 3, Fressen, 18.Sxe4 Dxe4 19.Dxe4 Sxe4 und Regel 4, 20.Ld5, wertvollste Figur angreifen.

Aber jetzt, wo e4 verteidigt ist, droht natürlich vernichtend 15.g5.

Betrachten wir die Variante 17…Sxe4 18.Sd5 ist das Hauptproblem, dass 18.Sxe7+ mit Schach kommt, wenn der Springer wegzieht! Dies ist genau der Grund weshalb Stockfish 17…Kh8 ziehen will, denn nun scheitert 18.g5 Sxe4 19.Sd5 schlicht an 19…Sxg5, weil der gefesselte Springer nicht mehr mit Schach weg kann. In der analogen Variante 19.Ld5 Sxg5 20.Lxc6 Sxf3+ frisst auf einmal der schwarze Springer mit Schach.

Nun würden manche 17…Kh8 als prophylaktischen Zug bezeichnen, weil er Sxe7+ oder anders gesagt, bei Sxe7 das „+“ aus dem Spiel nimmt. Nein, nein, nein. 17…Kh8 ist die stärkste Drohung in der Stellung, 18…Sxe4! Es ist ist nicht einmal so selten, dass Kh1 oder Kh8 eine Drohung aufstellt. Das ist mir in einer eigenen Partie auch schon passiert und ich habe es selbstverständlich nicht gesehen.

Meiner Ansicht nach spielt das „Mitschach“ eine entscheidende Rolle. Alle Arten Züge werden verstärkt, wenn sie „mit Geräusch“, einem Schachgebot, verbunden sind. So wird ein einfaches Schach zum „Doppelschach“ oder sogar zum „Doppelmatt“. Oder ein Angriff auf die Dame „mit Schach“ wird zum Damengewinn. Ein Schachgebot ist ein absolut zwingender Zug und somit eigentlich gar keine Drohung, sondern mehr als das. Kh8 stellt normalerweise deswegen eine Drohung auf, weil es einem Schach aus dem Weg geht. Oder wenn die g-Linie offen ist, und damit etwa Tg8(+) zur Drohung wird.

Die naheliegende Verteidigung 17…h6 18.g5 hxg5 19.Lxg5 ergibt eine für die Mechanik dieser Sorte Stellungen typische Variante. Schwarz hat nichts besseres als 19…Sxe4 20.Sxe4 Lxg5 21.Dg3 (oder 20…Lxe4 21.Dg3 und gewinnt) 21…Lh6 22.Sf6+ Kh8 23.Sg4 f6 24.Dh4 mit Angriff.

Schwarz wählte den offensichtlichen Gegenangriff, der schlicht die Hauptdrohung vernachlässigt.

17…b4? 18.axb4 Dxb4 19.g5 Sd7

Er hatte sich wohl erhofft, dass jetzt 19…Sxe4 geht, aber die Fressregel beweist das Gegenteil. 20.Sd5 Lxd5 21.Lxd5 Sxg5 22.Lxg5 Lxg5 23.Lxa8 und 19…Lxe4 20.Sxe4 Sxe4 21.Ld5 verlieren analog.

In totalen Gewinnstellungen braucht man sich nicht mehr um gegnerische Drohungen zu kümmern. Aber man sollte die Härte der Drohung beachten, und vor allem Konter vermeiden. Das Hauptproblem des Weissen ist, dass auf 20.g6 20…Sf6 den Gewinn erschwert. Aber genau diesen Zug macht Weiss!

Kandidat Nr. 1 ist ein Angriff auf die Dame. 20.Sd5 Lxd5 21.Lxd5, angenommen es kommt 21…Tab8. Sicherlich wird 22.g6 Sf6 irgendwie gewinnen, aber es gibt auch noch Züge wie 22.Dh5 und 22.f6. Aha, 22.f6 gxf6 23.Df5 ist weit oben in der Wüestschen Skala. Der Sd7 darf wegen 24.gxf6 nicht ziehen. Ihn zu decken hilft nicht, etwa 23…Db5 24.c4. Oder 23…Tfd8 24.g6. Oder 23…Tbd8 24.Tf3 nebst Th3.

Auch 20.f6 ist ein heisser Kandidat. 20…gxf6 21.Ld5 Db7 22.Lxc6 Dxc6 23.Sd5

20.Ld5 Db7 21.f6 gxf6 22.Lxc6 Dxc6 23.Sd5 führt zum selben Ergebnis.

Fazit: Weiss gewinnt beliebig.

20.g6? Sf6

21.Dh3 Tab8 22.Lg5 Dc5+ 23.Tf2 würde eine Mattdrohung aufbauen. 23…h6 erschwert aber die Aufgabe ungemein, weil Schwarz droht, den Hauptfeind Lb3 zu beseitigen. Weiss sollte nun abwickeln 24.Lxf7+ Txf7 25.gxf7+ Kxf7 26.Lxf6 Lxf6 27.Sd5 mit einem technischen Gewinn.

21.Lxf7+? Txf7 22.gxf7+ Kxf7

Im Vergleich zur obigen Variante sind die weissen Errungenschaften höchst mickrig ausgefallen. Weiss hat aus der Gewinnzone heraus verdünnt. Abtäusche vergeben in Gewinnstellungen immer Vorteile. Das richtige Prinzip ist eben drohen, drohen und nochmals drohen.

23.Lg5 Sxe4 24.Dh5+??

Das musste ja kommen. Er hatte nichts besseres als 24.Sxe4 Dxe4 mehr. 25.Dxe4 führt aller Voraussich nach zum Remis. Nur mit 25.Db3+ d5 26.Lxe7 Dg4+ 27.Dg3 Dxg3+ 28.hxg3 Kxe7 konnte er auf Vorteil hoffen.

24…Kg8 25.Le3 Sxc3 26.bxc3 De4 27.Dh3 Lh4 0-1

Desolat.