Kotow-Syndrom

Ein Spieler rechnet lange an seinem nächsten Zug herum, hat aber Zweifel. Auf einmal spielt er spontan einen Zug, den er überhaupt nicht berechnet hat. Das ist das Kotow-Syndrom.

FM Werner Kaufmann (2280) – IM Michael Hochstrasser (2380)
Schweizerische Mannschaftsmeisterschaft 2010

1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Lb4 4.e5 c5 5.a3 Lxc3+ 6.bxc3 Se7 7.Dg4 0–0 8.Ld3 Sbc6 9.Lg5 Da5 10.Se2 cxd4 11.f4 b6?

Michael ist der Wolfgang Uhlmann der Schweiz. Er spielt immer Französisch und im Winawer mit 7.Dg4 immer 8…Sbc6. Ich hatte mich auf ihn praktisch bis zum Gewinn vorbereitet. Z.B. hatte ich auf 10…Da4 11.h4 c4 12.Lxh7+ Kxh7 13.Kd2 parat. Aber das hatte ihm zu meinem Pech bereits GM Joe Gallagher 2 Wochen vorher aufgetischt.

Sein Zug ist ein entscheidender Fehler. Korrekt ist 11…dxc3 12.Dh5 Sg6 13.0-0 Dc5+ 14. Kh1 Sce7 15.Tf3 f6. In diese Variante hatte ich ein paar Stunden investiert. Den Partiezug hatte ich mir nicht speziell angesehen, da das Angriffsschema klar ist.

12.Dh5 Sg6 13.0–0 La6 14.Tf3 Lxd3 15.Txd3 Tfc8 16.Th3 Sf8

Er hatte bis hier viel Zeit verbraucht, und ich war noch frisch. Ich begann zu rechnen:

17.Lf6
17…gxf6 18.exf6 wird in ein paar Zügen matt.
17…dxc3 18.Dg5 Sg6 19.Lxg7 Kxg7 20.Dh6+ Kg8 21.Sg3 nebst 22.Sh5 und aus.
17…Da4 18.Dg5 Sg6, und weiter, wie gehabt.

17…Dc5 18.Kh1, jetzt am ehesten wohl 18…Tc7 19.Dg5 Sg6 20.Lxg7 Kxg7 21.Dh6+ Kg8, aber da sieht es aus, wie wenn er davon kommen würde, weil jetzt auf 22.Sg3 f5 alles deckt. Die Zweifel begannen zu nagen. Ich war auf Lxg7 fixiert. Houdini lacht mich aus und gibt
19.f5 exf5 20.Sf4 zum besten.

Gegen 21.Lxg7 oder 21.Dg5 nebst Lxg7 ist nichts zu erfinden.
Nun gut, ich kann das nicht voraussehen. Aber die ersten Schritte dahin hätte ich immerhin tun können, vielleicht wäre es mir eingefallen.

So überlegte ich, dass ich, wenn ich nicht durchkomme, mit einem Haufen Holz weniger, blöd dastehe. Da fiel mir ein, dass ich eh auf Gewinn stehe und nichts zu riskieren bräuchte. So nahm ich auf d4 zurück, ohne einen Gedanken darauf verschwendet zu haben.

17.cxd4? Da4

Das hatte ich übersehen. Es war mir oberpeinlich, ich hätte mich ohrfeigen können. Meine Zaghaftigkeit wich einem regelrechten Grimm, und ich freue mich noch heute an den folgenden Szenen. Auf einmal hatte ich die Chuzpe, einen ganzen Turm einzuheizen.

18.c3 Dc2 19.Tf1 Dg6 20.Dh4 h6 21.Lf6 Dh7 22.Tg3 Sg6 23.Dh5 Sce7 24.f5 Sxf5 25.Txf5 exf5 26.Dxf5 gxf6

Hier hielt ich inne. 27.Sf4 oder 27.e6? Da ich nichts sah, was gegen 27.Sf4 spricht, zog ich es. Den korrekten Gegenzug haben auch sämtliche anwesenden GM nicht gesehen.

Richtig ist 27.e6 Tc6 28.Dxd5 Tac8 29.e7 Kg7 30.Dxc6 Txc6 31.e8D Te6 32.Db5 und gewinnt.

27.Sf4

Er konnte sich mit 27…Txc3 retten. 28.Txc3 Sxf4 29.Dxf4 Db1+ 30.Tc1 fxe5, und ich muss wohl oder übel mit Remis zufrieden sein.

Er war aber längst im 30-Sekunden-Modus, und konnte das unmöglich sehen. Pro Zug gibt es ja heute 30 Sekunden dazu, er hatte seine ganze Bedenkzeit aufgebraucht und somit immer gerade eine halbe Minute pro Zug übrig.

27…Kh8 28.Sxg6+ fxg6 29.Txg6 Tf8

Natürlich hatte ich 30.Dh5 mit Gewinn gesehen, aber auf einmal „entdeckte“ ich, dass 30.exf6 „noch viel stärker“ wäre. Zeit, dies zu überprüfen, wäre mehr als genug da gewesen. Noch einmal schlägt Kotow zu.

30.exf6?? Tf7??

Nach 30…Tg8 hätte ich aufgeben können, aber immerhin habe ich nun auch einen Doppelbock in der Sammlung, Wie Carlsen, siehe Schachblindheit.

31.Dh5 Taf8 32.Txh6 Dxh6 33.Dxh6+ Kg8 34.Dg5+ Kh8 35.Dh5+ Th7 36.De5 1–0

 

 

Antiquarische Schachbücher