Die Schwierigkeit der Aufgabe

Eine Schachpartie besteht im Wesentlichen aus einer Kette von Entscheidungen. Je schwieriger die Entscheidungen sind, umso höher die Fehlerquote. Meines Wissens hat einzig Rudolf Spielmann in Richtig Opfern! darauf hingewiesen: Nicht oft genug kann ich betonen, dass in der praktischen Partie keineswegs die objektive Sachlage, sondern die relative Schwierigkeit der zu bewältigenden Aufgabe entscheidet.

Betrachten wir folgende kleine Partie unter diesem Aspekt.

Glenn Johnson – Ben Finegold
US Open 1998
1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.Sg5 Lc5 5.Sxf7 Lxf2+ 6.Kxf2 Sxe4+ 7.Ke3 Dh4 8.g3 Sxg3 9.hxg3 Dd4+ 10.Kf3 d5 11.Th4 e4+ 12.Kg2 O-O 13.Dh5 Txf7 14.Lxd5 ½-½

Ben Finegold ist ein wundervoller youtube-Schachlehrer, ähnlich wie Simon Williams. Obwohl die meisten meiner Meisterkollegen beide belächeln. Gut, sie vereinfachen die Sache etwas sehr, aber das tun die ’seriösen‘ auch, etwa der gute Danny King, dessen Vorträge vor Plattitüden strotzen. Nur Peter Swidler geht auf die Komplexität der Entscheidungen ein und ist daher für Normalverbraucher kaum zu begreifen.

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.Sg5

Ich habe die Partie aus einem youtube-Video Ben Finegolds. Der gute Ben bezeichnet diesen Zug als ‚fried liver attack‘. Falsch. Erst nach 4…d5 5.exd5 Sxd5 6.Sxf7 sind wir in der Fegatello-Variante, was man meinetwegen als ‚gebratene Leber‘ übersetzen darf.

4…Lc5

Das ist der Traxler-Gegenangriff, nach dem Tschechischen Schachspieler Karel Traxler benannt, der den Zug als erster 1890 spielte. Als Meisterspieler sollte man nicht so spielen, denn Weiss frisst den Bauern mit Schach und zieht den Läufer dann zurück. Dass es trotz der objektiven Sachlage, dass Weiss wahrscheinlich auf Gewinn steht, nicht so einfach ist, zeigt einerseits die Statistik, denn Weiss macht nach 5.Lxf7+ Ke7 unter 50% der Punkte, anderseits hielt Alexander Beljawski 1983 gegen den Weltmeister Karpow leicht remis, er wäre sogar auf Gewinn gestanden, und 1991 besiegte er damit Anand nach der Zugfolge 6.Ld5 De8 7.d3 d6 8.Lxc6 bxc6 9.Le3 Dg6 10.Sf3 Lxe3 11.fxe3 Dxg2 12.Tg1 Dh3 13.Txg7+ Kd8.

5.Sxf7 Lxf2+

Eine erste Entscheidung steht an. Die Statistik ist nicht ermutigend. Nach 6.Kf1 macht Weiss 21% der Punkte, nach 6.Kxf2 29%.

Nun, ich kenne die objektive Sachlage. Nach 6.Kxf2 kann Weiss forciert remisieren, wenn er will. In der vorliegenden Partie hat dies der 2280-er Johnson gegen den GM Finegold dankend angenommen.

Die Stellung nach 6.Kf1 De7 7.Sxh8 d5 8.exd5 Sd4 war in der Vorcomputer-Ära Gegenstand unzähliger Fernschachpartien, und Weiss machte gerade mal 18% der Punkte, obwohl es objektiv leicht zu seinen Gunsten steht. Die Computer-Theorie sagt, dass Weiss nach 9.d6 Dxd6, und jetzt 10.c3 Lg4 11.Da4+ b5 12.Lxb5+ Sxb5 13.Kxf2 Ld7 vielleicht einen Vorteil hat. Nach 10.Sf7 Dc5 11.d3 scheint 11…Lg4 12.Dd2 Lh4 objektiv das Stärkste zu sein, ist aber bisher noch nie vorgekommen.

6.Kxf2 Sxe4+ 7.Ke3

Meine Leib- und Magenvariante. Aber nach 7…De7 8.Sxh8 habe ich in meinen Blitzpartien das desaströse Resultat von 3 aus 9. Weshalb? Nun, sehen Sie selbst.

Den objektiv besten Zug 8…Dg5+ kannte ich, 9.Kxe4, denn alles andere wird schnell Matt. Df4+ 10.Kd3 d5 11.Lxd5, aber der einzige Gegner, der dies spielte gab hier auf! 11…Lf5+ 12.Ke2 Sd4+ 13.Ke1 Sxc2+ 14.Dxc2 Lxc2 15.Lxb7, und eigentlich müsste Weiss seinen Materialvorteil verwerten können…

Die meisten Gegner spielten hier 8…d5, nach einigen leidvollen Erfahrungen befragte ich Stockfish und fand 9.Dh5+, was als Einziges nicht direkt verliert. In einer Partie kam 9…g6 10.Sxg6 Dc5+ 11.Ke2 Sd4+ 12.Kf1 Dxc4+ 13.d3 Dxc2 14.Sxe5+ Kd8 15.Lg5+ Sxg5 16.Dxg5+ Ke8, und bald einmal 1-0.

Neulich setzte mir einer aber 8…Dc5+ vor und ich verlor ganz schnell, nämlich mit 9.Kxe4?? d5+ 10.Lxd5 Dd4+ 11.Kf3 Lg4+ 12.Kg3 Df4+ 13.Kh4 g5#. Das ‚bessere‘ 10.Kf3 Df8+ 11.Ke2 Lg4+ hätte natürlich auch nichts genützt, aber wer weiss, ob er Df8+ gefunden hätte. Alles andere verliert nämlich…

Die Widerlegung von 8…Dc5+ ist 9.d4, kein Zug, der einem gerade ins Auge springt, vor allem im Blitz nicht. Nach 9…Sxd4 10.Lf7+ Ke7 11.Kxe4 d5+ 12.Kxe5 erweist sich der Monarch als steel king. Und nach 9…Dxc4 10.Kxe4 d5+ 11.Ke3 läuft der König einfach davon, etwa 11…exd4+ 12.Kf2.

7…Dh4 8.g3 Sxg3 9.hxg3 Dd4+ 10.Kf3 d5 11.Th4 e4+ 12.Kg2 O-O

Soweit alles forciert. Johnson packte die Gelegenheit und holte sein GM-Remis. Ich selber pflege hier weiter zu spielen. 13.Lb3 käme in Frage, scheint aber etwas langsam, und nach 13…Txf7 14.Dg1 De5 etwas passiv.

Mein Lieblingszug ist 13.Sc3, gerade letzte Woche habe ich damit gegen einen 2400-er gewonnen. Nach 13…Dxc4?? was praktisch alle spielen, kam 14.Dh5 Txf7 15.Dxh7+ Kf8 16.Dh8+ Ke7 17.d3 Dd4 18.Lg5+ Kd7 19.Tf4 Txf4 20.Lxf4 Sb4 21.dxe4 Sxc2 22.Td1 Se3+ 23.Lxe3 Dxe3 24.Txd5+ mit baldigem Matt.

Der einzige Zug nach 13.Sc3 ist 13…dxc4, und nach 14.Dh5 ist 14…Se7 wieder der einzige Zug, der nicht verliert. Gerade deswegen spiele ich so, wegen der Schwierigkeit der Aufgabe. 14…Txf7 15.Dxh7+ Kf8 16.Dh8+ Ke7 17.Txe4+ verliert die Dame.

13.Sc3 dxc4 14.Dh5 Se7, hier habe ich 15.Txe4 Df6 16.Tf4 Dc6+ 17.Tf3 vorbereitet. Schwarz musste schon bis hierhin präzise spielen, hat weiterhin eine Figur weniger und muss weiterhin präzise spielen, um nicht zu verlieren. 17…De8 18.Sh6+ gxh6 19.Txf8+ Dxf8 20.d3 cxd3 21.cxd3 ergäbe ein schwieriges Endspiel.

Eine andere Idee anstelle von 13.Sc3 ist 13.Tf4 dxc4 14.Dh5, was vermutlich objektiv stärker ist. Auch hier muss Schwarz erst nachweisen, wofür er die Figur geopfert hat.

13.Dh5 Txf7 14.Lxd5 ½-½

In solch verworrenen Stellungen sind die besten Züge – wenn es denn solche gibt – nur sehr schwer zu erkennen. Das gilt besonders für die Stellung nach 6.Kf1. Dort gibt es kaum Anschauungsmaterial aus Turnierpartien, und der Eloschnitt der Anwender dieses Zuges liegt bei etwa 1900. Dafür haben wir massenhaft Fernpartien aus der Vorcomputerzeit. Wie gesagt liegt die Erfolgsquote der Weiss-Spieler auch dort um die 20%.

Prozentual am besten schnitten sie noch mit dem Verlustzug 9.c3 ab, der ‚ganz simpel‘ widerlegt wird. Hier eine der Stammpartien, die Fernpartie Mikiska-Traxler von 1896:

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 4.Sg5 Lc5 5.Sxf7 Lxf2+ 6.Kf1 De7 7.Sxh8 d5 8.exd5 Sd4 9.c3?? Lg4 10.Da4+ Sd7 11.Kxf2 Dh4+ 12.Ke3 Dg5+

Mit der falschen Idee. Der beste Zug war 12…Lh5 mit der Mattdrohung 13…Df4+ 14.Kd3 Le2#. Nach 13.Tf1 O-O-O droht 14…Sc5, was dem König das Fluchtfeld d3 wegnimmt. Stockfish schlägt als ’stärkstes‘ vor, mit 14.Lb5 Sc5 15.cxd4 die Dame herzugeben.

13.Kf2 Df5+?

13…Df4+ war nicht schwer zu sehen. 14.Kg1 Se2+ 15.Lxe2 Dxa4 verliert die Dame. 14.Ke1 O-O-O entfesselt erneut den Springer und bringt den Turm ins Spiel. Nach 15.Tf1 De4+ 16.Kf2 setzt 16…Lh3 forciert Matt. Wer das nicht sieht, kann auch primitiv mit 16…Tf8+ 17.Kg1 Txf1+ gewinnen. Wenn Weiss die Dame nicht verlieren möchte, muss er mit dem König wiedernehmen, wird aber nach 18.Kxf1 Le2+ 19.Kg1 Lxc4 mattgesetzt.

14.Kg1 O-O-O?

14…De4 leitete entweder in obige Variante über oder gewann nach 15.cxd4 Dxd4+ 16.Kf1 O-O-O 17.d6 Tf8+ 18.Sf7 Txf7+ 19.Lxf7 Dxa4 wiederum die Dame.

15.cxd4??

Es drohte nebst 16…Tf8 erneut 16…De4 mit Matt oder Damengewinn. Beiden Drohungen war nur mit 15.Db4 zu begegnen, denn 16…Tf8 16.Dxf8+ Sxf8 17.cxd4 und Weiss ist aus dem Schneider. Schwarz konnte in diesem Fall mit der langen Variante 15…Le2 16.h3 Df1+ 17.Kh2 Sf3+ 18.Kg3 Dxh1 19.Lxe2 De1+ 20.Kxf3 e4+ 21.Dxe4 Tf8+ 22.Ke3 Df2+ 23.Kd3 Sc5+ immer noch gewinnen. Dass er das auch gefunden hätte, wage ich zu bezweifeln.

15…Tf8 16.h3 Df2+ 17.Kh2 Lxh3 18.Kxh3 g5 0-1

Für eine Fernpartie ziemlich fehlerhaft. Die Spieler hatten ja tagelang Zeit für ihre Züge. Ein guter Blitzspieler von heute würde das wohl eher besser spielen.

Das Lösen komplexer Aufgaben ist eine Frage der Zeit. Spielstärke und Zeitverbrauch sind eng korreliert. Was Lasker in einer Turnierpartie gesehen hat, sieht Carlsen im Blitz. Dazu ein Beispiel aus meiner Erfahrung als Coach. Ich hatte für einen meiner Schüler (1900 Elo) eine Variante ausgearbeitet und liess ihn die korrekten Züge selber finden. Er fand die Züge immer nach einiger Zeit, vielleicht auf Umwegen, aber er fand sie alle innerhalb einer Stunde. Anlässlich eines Mannschafts-Wettkampfes zeigte ich die Stellung einem 14-jährigen 2300-er. Er brauchte etwa 5 Minuten, um mir die Stellung zu erklären und fand sogar noch Alternativen und Widerlegungen.

Es geht also um die Geschwindigkeit des Sehens. Schwache Spieler sehen viel irrelevantes. Deshalb ist meine erste Frage nach einem Zugvorschlag immer „und, was droht das?“ Wer sich nämlich auf Drohungen und Gegendrohungen fokussiert, sieht schneller, und braucht notabene viel weniger zu rechnen. Auch eine meiner Thesen. Starke Spieler rechnen weniger als schwache, weil sie die kritischen Züge auf Anhieb sehen.

Und noch was. Partien starker Spieler sind enorm komplex im Vergleich zu denen schwacher Spieler, deren Partien meist fade, umständlich und sozusagen im Zeitlupentempo verlaufen. Ich kann Internet-Blitz nicht genug empfehlen. Man sollte sich aber die richtige Bedenkzeit aussuchen. Je stärker, umso schneller. Bis etwa 1800 sollte man 10-Minuten-Blitz oder langsamer spielen, und die Partien mit dem Computer analysieren. Meine ideale Bedenkzeit ist 3’+2“, obwohl ich im 3+0 ’stärker‘ bin, d.h. mehr gewinne, vor allem auf Zeit. Das nützt mir aber nichts, denn die Partien sind dann äusserst fehlerhaft. Leider gehöre ich auf allen Servern zu den 2-3% stärksten, und spiele daher meist gegen schwächere. Was mich dazu veranlasst, mein Spiel zu überschätzen. Immerhin finde ich immer wieder Gegner, die mich regelrecht zerlegen, auch mit dubiosem Zeug, etwa 1.g2-g4. Gerade diese Partien untersuche ich eingehend darauf, wie der in diesem Tempo alle diese Tricks finden kann.