Dilettant oder Amateur?

Schachspieler, die zum Vergnügen Schach spielen, werden gemeinhin Amateure genannt. Im Sport versteht man unter einem ‚Amateur‘ im allgemeinen einen Sportler, der seinen Sport nicht professionell ausübt. So gibt es etwa Grossmeister, die ihren Sport nie professionell ausgeübt haben. Das Wort ‚Dilettant‘ hingegen ist etwas abschätzig, obwohl es dasselbe ausdrückt, nämlich dass derjenige oder diejenige zum Vergnügen und aus Freude spielt.

Die meisten Schachbücher wenden sich an die so genannten Amateure, und unter diesen an eine ganz bestimmte Zielgruppe, nämlich diejenigen, die sich verbessern wollen. Dabei setzen die Autoren implizit voraus, dass ‚mehr Erfolg‘ auch ‚mehr Spass‘ bedeutet. Die Rezepte, die sie für den Fortschritt anbieten, bedeuten aber meist einfach nur ‚mehr Arbeit‘.

Amateure nehmen diese Arbeit bereitwillig auf sich. Sie studieren Eröffnungsbücher, die ihnen einen sicheren Gewinn mit Sowieso versprechen. Oder den Weg zur Meisterschaft. Oder sie lernen irgendwelche Systeme auswendig. Nur um irgendwann zu merken, dass sie sich eine Schablone auferlegt haben, die am Ende echt keinen Spass macht, und mit dem ‚Erfolg‘ hapert es dann leider auch.

Ich selber bin ein sogenannter ‚Meister‘ und damit weit oben in der Erfolgs-Skala, nur 2-3% aller Spieler erreichen diese Stufe. Ich spiele seit 60 Jahren Schach. Viele Partien im Lauf dieser Jahre fühlten sich eher nach Arbeit an, als nach Vergnügen. Aber es gab auch Ausnahmen. und die trafen meistens dann ein, wenn ich in heiterer, ja sogar übermütiger Stimmung am Brett sass, und keine Experimente scheute. Ein Beispiel:

Er – Ich, 1997 gespielt.
1.d4 d5 2.c4 dxc4 3.Sf3 a6 4.e3 Lg4 5.Lxc4 e6 6.Sc3 Sf6 7.h3 Lh5 8.g4 Lg6 9.Se5 c5 10.h4 Sbd7 11.Sxg6 hxg6 12.g5 cxd4 13.Dxd4 Lc5 14.Df4 Sh5 15.De4 O-O 16.Dxb7 Se5 17.Le2 f5 18.gxf6 Dxf6 19.Tf1 Tab8 20.Dg2 Dxh4 21.a3 Tf5 22.Se4 Lf8 23.Ld2 Txb2 24.Lc3 Tb3 25.Th1 Dd8 26.Lxe5 Da5+ 27.Lc3 Txc3 28.Kf1 Txe3 29.Lxh5 gxh5 30.Kg1 Txa3 31.Txa3 Dxa3 32.Dg6 Da1+ 33.Kg2 De5 34.Te1 Tf4 35.Kf1 Tg4 0-1

Kaffehausschach in Reinkultur. Wenn Sie sich die Partie mit dem Computer anschauen, werden Sie merken, dass das alles mehr oder weniger korrekt war. Hat diese Partie nicht auch Ihnen Spass gemacht? Sogar der grosse Viktor Kortschnoi hat die Partie gerühmt und mich dafür zu einem Kaffee eingeladen. Aber was für ein Patzer war der Weisse denn? Nun, es war ein GM.

Damit komme ich zu den Dilettanten, jener Gruppe, für die ‚mehr Vergnügen‘ auch ‚mehr Erfolg‘ bedeutet. Dass ich damit nicht nur ’na gut, Pech gehabt, aber hat Spass gemacht‘ meine, sollte die obige Partie zeigen. Man kann auch Spass haben und gewinnen. Ob Sie nun zum Vergnügen oder zum Gewinnen spielen, wird unter dem Strich ungefähr dasselbe Resultat hervor bringen. Der Unterschied liegt darin, dass Sie im einen Fall keine Freude haben, wenn Sie verlieren, im anderen freuen Sie sich, sogar wenn Sie verlieren.

Nun ist es aber unmöglich, aus Dilettantismus ein Rezept zu konstruieren. Es würde auf das ’sei spontan!‘- Paradoxon hinaus laufen, unter dem Motto ‚jetzt geh da raus und hab Spass!‘ Als Tennis-Fan höre ich das öfters von Profis vor einem Match gegen einen stärkeren Gegner. Es gibt keine verkrampfteren Tennisspieler als genau diese.

Aber eben, diese Kampfstimmung herbei zu zaubern, ist unmöglich. Man kann sie ein wenig üben. Die meisten versuchen es mit autogenem Training oder Visualisieren. Das kann ich nicht beurteilen, weil ich es nie probiert habe. Ich habe versucht, mit mir selber zu reden, aber das hat nicht funktioniert, also wird es vermutlich mit Mentaltraining auch nicht funktionieren. Aber während einer Schachpartie müssen Sie sich ein Dutzend Mal entscheiden. Wenn Sie sich konsequent für die Taube auf dem Dach gegenüber dem Spatz in der Hand entscheiden, haben Sie gute Chancen, von Ihrem Schach etwas zu haben. Und nicht nur vom Schach, auch vom Leben.

Nun verderben aber Fehler ansonsten gut gespielte Partien. Ein einziger davon genügt. Darin unterscheidet sich Schach von vielen anderen Sportarten. Im Tennis können Sie 50 dumme Fehler machen und trotzdem gewinnen. Im Schach ist das ganz anders. In dieser Sportart geht es vor allem darum, keine dummen Fehler zu begehen. Darüber werden aber keine Bücher geschrieben, sondern viel mehr darüber, welche dummen Fehler der Gegner machen wird, wenn wir dieses oder jenes System befolgen. Wie wenn wir a priori von Fehlern gefeit wären.

Das Einzige, das ich Ihnen empfehlen kann, sind Tricks, Tricks und nochmal Tricks. In der Fachsprache Abwicklungen und Kombinationen genannt. Analysieren sie Ihre Partien mit dem Computer. Er wird Ihnen viele Tricks zeigen. Versuchen Sie diese zu verstehen, und sagen Sie nicht, ‚aha hier hätte ich diesen machen sollen‘, ohne zu kapieren, wie er funktioniert. Tricks sind das Handwerkszeug des Schachspielers. Das beste Denk-System nützt mir nichts, wenn ich einfache Tricks übersehe.

Legen Sie Ihre Partien so an, dass trickreiche Situationen entstehen. In der Regel entstehen diese nicht aus Damenindisch oder orthodoxem Damengambit. Wählen Sie Eröffnungen mit variabler Bauernstruktur. Ein Beispiel:

Dmitri Andreikin – Wladimir Kramnik
World Blitz Moskau 2010
1.Sc3 Sf6 2.e4 e5 3.f4 d5 4.fxe5 Sxe4 5.Sf3 Lc5 6.d4 Lb4 7.Ld2 c5 8.Sxe4 dxe4 9.Lxb4 cxb4 10.Sg1 O-O 11.Lc4 Sc6 12.c3 bxc3 13.bxc3

1.Sc3 Sf6 2.e4 e5

Daraus kann alles mögliche entstehen. Mit 3.Lc4 würde Weiss seine Bauernstruktur auf die weissen Felder festlegen, und ‚weissfeldrig‘ spielen. Die Hauptvariante lautet 3.Lc4 Sc6 4.d3 Sa5 5.Df3 Sxc4 6.dxc4, wonach der Fall klar ist. Weiss spielt auf den weissen Feldern, Schwarz auf den schwarzen.

3.f4 d5 4.fxe5 Sxe4 5.Sf3 Lc5

Die Struktur hat sich umgedreht. Weiss spielt jetzt schwarzfeldrig. Kramniks Zug ist klar der beste. Ein krasses Gegenbeispiel für das viel zitierte ‚Entwicklungsprinzip‘ und das ‚Zentrumsprinzip‘. Schwarz verschenkt ein Tempo, um den d-Bauern dahin zu zwingen, wo er eh hin will, ins Zentrum. Ich nenne das Angriffsprimat. Drohungen sind wichtiger als Prinzipien.

6.d4 Lb4 7.Ld2 c5

Schwarz hinterfragt die Stuktur sofort wieder. Weiss sollte 8.Lb5+ Sc6 9.O-O O-O versuchen, Es wird ihm nicht gelingen, die Lage zu beruhigen.

Weiss ist unter Druck gekommen und verstösst doppelt gegen das Tauschverbot.

8.Sxe4? dxe4 9.Lxb4?

Einzig 9.c3 exf3 10.Dxf3 La5 11.Lb5+ gab ihm Gegenchancen. Das ist ein höchst komplizierter Trick, der auf 11…Sd7 (oder 11…Ld7?) 12.e6 beruht. Als Dilettant brauchen Sie den nicht zu kennen, aber hätte nicht gerade dies seinen Reiz?

9…cxb4 10.Sg1 O-O 11.Lc4 Sc6 12.c3 bxc3 13.bxc3

Kramnik spielte hier 13…Dg5 und verlor sogar noch. Am überzeugendsten gewann 13…Dc7, was 14…Sxe5 droht. Spielt Weiss 14.Lb3, kommt trotzdem 14…Sxe5 15.dxe5 Dxc3+ 16.Kf2 Lg4 mit Gewinnstellung.

Je nach Ihrer Spielstärke werden Sie ein paar Minuten bis ein paar Stunden brauchen, um diese 13 Züge zu verstehen. Eine Menge Tricks für so wenig Züge. Ich bin geradezu süchtig nach diesen Sachen. Ein junger Spieler mit einem guten Gedächtnis und Freude an Tricks wird diese mühelos lernen. Magnus Carlsen kennt eine Menge dieser Tricks. Das hat er den meisten seiner Konkurrenten voraus.

Das ist meine persönliche Vorliebe. Es steht Ihnen natürlich frei, die Eröffnung solide zu spielen, wenn Sie Gedächtnisballast vermeiden wollen. Damit werden die Tricks einfach ins Mittelspiel verlagert, und sind ‚milder‘, d.h. weniger komplex. Auch ‚Systeme‘ sind gut geeignet, sich selber auf vertrautem Terrain zu bewegen und den Gegner unter Druck zu setzen. Ich denke da z.B. an den Königsidischen Angriff, Londoner System, Zukertort, GP-Angriff mit Weiss, oder Philidor und Altindisch mit Schwarz.

Es ist eine alte Diskussion, ob der Dilettant überhaupt Eröffnungen lernen soll. Ich habe auch Meisterkollegen, die grob gesagt mit 1.b3 und 1…b6 durchkommen. Oder à la Hickl und Suttles, mit 1.g3 und 1…g6. Die Eröffnung ist wirklich nicht wichtig, wenn Sie zunächst ‚Feindkontakt‘ vermeiden, sich selber keine Angriffsziele zufügen und Passivität vermeiden. Nur sollten Sie dann nicht ins Systemdenken verfallen und irgendwelche positionellen Ziele anstreben, sondern eben ganz konkret nach Tricks Ausschau halten. Und falls Ihnen in einer konkreten Situation nichts eingefallen ist fragen Sie Ihren Computer. Sie werden staunen was alles möglich ist.