Eine Sensationspartie

Jede Schacholympiade hat ihre Sensationspartien. Z.B. Kortschnoi-Kasparow von Luzern 1982, wo ich live dabei war. Ich erinnere mich auch an die Schacholympiade Lugano 1968. Danach war die Partie Kick Langeweg – Alex Casa in aller Munde. Die Opferorgie des Amateurs Casa, der für Monaco spielte, trat ihre Reise um die Welt an.

Hier noch einmal ihre Notation:
1.d4 Sf6 2.c4 g6 3.Sc3 Lg7 4.e4 d6 5.Le2 O-O 6.Sf3 e5 7.O-O Sc6 8.d5 Se7 9.Se1 Sd7 10.f3 f5 11.g4 f4 12.h4 Sf6 13.Ld2 c6 14.b3 cxd5 15.cxd5 Ld7 16.a4 Tc8 17.Sd3 Lxg4 18.fxg4 Txc3 19.Lxc3 Sxe4 20.Le1 Db6+ 21.Sf2 Sg3 22.Ta2 e4 23.a5 De3 24.Lc4 Le5 25.b4 Se2+ 26.Txe2 Dg3+ 27.Kh1 f3 28.Sxe4 Dh3+ 29.Kg1 Dxg4+ 30.Kh1 Dh3+ 31.Kg1 Sf5 32.Sf6+ Txf6 33.Txf3 Dxf3 34.Dd3 Ld4+ 35.Kh2 Se3 36.Lg3 Sf1+ 37.Kh3 Sxg3 38.Dxf3 Txf3 39.Te8+ Kf7 0-1

Berühmt wurde auch unten stehendes Partiechen. Kotow rühmte das Läuferopfer in der Prawda als ‚echt sowjetisches Opfer‘. Paul Keres war damit nicht einverstanden, nahm sich Kotow zur Brust, und erklärte ihm, dass es, wenn schon, ein ‚estnisches Opfer‘ gewesen sei. Da Stalin im Vorjahr gestorben war, konnte man solches nun relativ gefahrlos von sich geben.

Paul Keres – Jaroslav Šajtar
Olympiade Amsterdam 1954
1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 Sbd7 7.Lc4 e6 8.O-O Dc7 9.Lxe6 fxe6 10.Sxe6 Dc4 11.Sd5 Kf7 12.Lxf6 Kxe6 13.Lc3 Sf6 14.Lxf6 gxf6 15.Sb6 Dc6 16.Sxa8 Le7 17.a4 b6 18.Dd5+ Kd7 19.Ta3 Ld8 20.Sxb6+ 1-0

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lg5 Sbd7 7.Lc4 e6 8.O-O Dc7

Vorsichtiger waren 8…Da5 oder 8…h6. Ich bringe die Partie im Hinblick auf die Mustererkennung. Šajtar wurde später Schiedsrichter und Vizepräsident der FIDE. Er machte Dc7 sicher nur als Entwicklungszug und es kam ihm nicht im entferntesten in den Sinn, dass man danach opfern könnte. Über das Opfer sind sich auch GM nicht einig, Z.B. hat der amerikanische GM Patrick Wolff hier 9.Lb3 gemacht.

Das Läuferopfer auf e6 ist heutzutage eines der Standardopfer im Sizilianisch, und es gibt Faustregeln dafür, wann es funktioniert und wann nicht. Z.B. wenn der schwarze Läufer auf e7 steht und der weisse Springer sich nach g7 mit Schach durchfressen und auf f5 wieder in Sicherheit bringen kann. In anderen Fällen sollte man die Pointe des Opfers kennen, z.B. 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 a6 6.Lc4 e6 7.Le3 b5 8.Lb3 Sbd7? Hier steht der Läufer auf f8 und daher funktioniert das Opfer ’normalerweise‘ nicht. Aber 9.Lxe6 fxe6 10.Sxe6 Da5 hat die Pointe 11.a3! Die Stellung nach 8…Sbd7 kam übrigens 64 Mal vor, aber nur vier haben geopfert, und nur zwei dann auch 11.a3 gefunden, wonach einer sogar noch verlor…

Dies hier ist ein relativ einfacher Fall mit positionellem Hintergrund. Weiss bekommt zwei Bauern plus die Rochade, nebst entweder einem Springer oder einem Bauern auf d5, und dem Ross auf e6, welches nach allen Seiten auskeilen kann. Dieses Motiv leuchtete denn auch vielen Spielern ein, und die ersten sizilianischen Opferpartien wurden damit gespielt.

9.Lxe6 fxe6 10.Sxe6 Dc4 11.Sd5 Kf7

Keine Frage, dass Keres die plausible Folge 11…Sxd5 12.exd5 Kf7 13.Df3+ Sf6 14.Lxf6 gxf6 15.Dh5+ Kg8 16.Tae1 Lxe6 17.dxe6 Dc7 18.Te3 De7 19.Td1 Td8 20.Tg3+ Lg7 21.Dh6 nicht berechnet hat, sondern aus oben genanntem Motiv und vor allem intuitiv geopfert hat. Er war eben seinen Zeitgenossen voraus, was die Einsicht ins Spiel betraf.

12.Lxf6

Er sieht 12…Sxf6 13.b3, und die Dame hat kein einziges Feld. Hat sie aber. 13…Dxf1+ 14.Dxf1 Lxe6 15.Sc7 Tc8 16.Sxe6 Kxe6 17.Dd3, und der Ausgang ist unklar.

Sofort 12.b3, und nach 12…Dxe4 droht 13.Sdc7 Te1 nebst Sxa8, plus die Nebendrohung Lxf6 nebst eventuell Sg5+. So geht 13…Tb8 nicht, wegen 14.Lxf6 gxf6 15.Te1, und Schwarz verliert in allen Varianten die Dame. Etwa 15…Df5 16.g4 Tg8 17.Sd8+. Daher 13…h6 14.Lxf6 Sxf6 15.Te1 Df5 16.Sd8+ Kg6 17.Sxa8 mit Vorteil.

12…Kxe6?? 13.Lc3 Sf6 14.Lxf6 gxf6 15.Sb6 Dc6 16.Sxa8 Le7 17.a4 b6 18.Dd5+ Kd7 19.Ta3 Ld8 20.Sxb6+ 1-0

Diese Partie würde heutzutage bestenfalls noch in der Rubrik ‚Kurzschlüsse‘ erscheinen. Casas Turmopfer war schon anspruchsvoller, und Kortschnoi-Kasparow ist zurecht eine der historischen Schachpartien.

Dieses Läuferopfer war 1954 eine Sensation, und die Schachwelt glaubte, dass Keres es bis zum Damengewinn berechnet hätte. Das Schachverständnis hat sich seit 1950 enorm entwickelt. In den letzten 55 Jahren war ich bei dieser Entwicklung dabei. Um 1970 lag der Elo-Schnitt der ersten Mannschaft Luzerns, die in der obersten Liga spielte, um 2000 herum, eher darunter. Um 1980 lag er etwa bei 2200. Beim ersten Titelgewinn 1991 bei etwa 2300. Beim zweiten Titel 2018 waren es um die 2450.

1970 war es keine Seltenheit, dass an einem Spielabend der Schachgesellschaft 100 Mitglieder erschienen. Bobby Fischer löste dann einen zusätzlichen Mitgliederboom aus. Erst danach bekam ich an Spielabenden ein paar ernsthafte Blitz-Gegner. Vorher war das allgemeine Niveau – milde gesagt – unterirdisch; Mitte der 70-er Jahre gewann ich drei Innerschweizer Meisterschaften hintereinander, eine davon mit achteinhalb aus neun, zwei mit siebeneinhalb. Ich verlor dabei eine einzige Partie, indem ich einen Turm einstellte, als ich bereits drei Bauern mehr hatte. Nach und nach entwickelte sich das kollektive Schachwissen, aber das konkrete Schach, das heute auch in der zweiten Liga schon gespielt wird, fand noch lange nicht statt.

In den 90-er Jahren kam Jimmy Sherwin nach Luzern. Er war um 1960 der drittstärkste Amerikaner hinter Fischer und Reshevsky, und spielte am berühmten Interzonenturner Portorož 1958 als Vertreter der USA mit. Es stellte sich heraus, dass er etwa in meiner Liga spielte. Im head-to-head führe ich mit einem Punkt, wenn ich mich recht entsinne. Im Blitz war er etwas stärker als ich, obwohl er skurriles Zeug, wie etwa 1…Sc6 spielte, und eine Vorliebe für beengte Stellungen hatte. Er hatte eine Karriere als Topmanager derjenigen als Schachspieler vorgezogen, aber verlernt hatte er das Spiel inzwischen sicher nicht. Was die Vermutung nahe legt, dass die Elite von 1960 dreissig Jahre später bereits Durchschnitt war.

Diese Vermutung trifft für das IM-Niveau wahrscheinlich zu. Aber Weltklasse-Spieler hatten die Fähigkeit, sich zu verbessern. Etwa die oben genannten Keres und Kortschnoi, die tatsächlich im Laufe ihrer Karriere stärker wurden. Historisch gesehen haben Lasker und Aljechin die grössten Fortschritte erzielt, aber das war dannzumal auch viel leichter.