Richard Réti

Richard Réti – Emanuel Lasker
New York 1924

1.Sf3 d5 2.c4 c6 3.b3 Lf5 4.g3 Sf6 5.Lg2 Sbd7 6.Lb2 e6 7.0–0 Ld6 8.d3 0–0 9.Sbd2 e5 10.cxd5 cxd5

Hier sitzen sich zwei Denker gegenüber.

Einerseits Lasker, der eingesehen hat, dass – insbesondere im Schach –  „der Vervollkommnungsprozess unvollendbar“ sein muss. Daher will er pragmatisch und ökonomisch, mit gesundem Menschenverstand, denken.

Anderseits Réti, der sein System, das Zentrum von den Flanken her anzugreifen, in dieser Partie vehement vertritt.

Dazu wäre hier der methodische Zug 11.e4 geeignet gewesen.

11…dxe4 12.Sxe4

12…Sxe4 13.dxe4 verliert eine Figur.

12…Lc7 13.Sxf6 Dxf6 14.d4, und der weisse Königsläufer kommt auf der langen Diagonalen voll zur Entfaltung.

Lasker bleibt nur 12…Lxe4 13.dxe4 De7 14.Tc1 Tfc8 15.De2 mit positionellem Übergewicht für Réti.

11…Lg6 12.exd5

12…Sxd5 13.Sc4 verliert den Bauern e5.

12…Lxd3 13.Te1. 13…Sxd5 verlöre wegen 13.Sc4 eine Figur. Schwarz steht höchst gefährdet, Rétis System hätte sich ausgezeichnet bewährt gehabt.

Der Zug sieht derart antipositionell aus, dass ihn wohl keiner der beiden erwogen hat, der eine aus „gesundem Menschenverstand“, der andere, weil er sein berühmtes Manöver im Sinn hatte, nämlich zusätzlich mit der Dame von a1 aus aufs Zentrum zu drücken.

Aljechin übergiesst im Turnierbuch Rétis „Zukunftseröffnung“mit allerlei Spott, aber auch er sieht diesen Zug nicht, weder hier noch später.

11.Tc1 De7 12.Tc2 a5

Das ist ganz klar gegen 13.Da1 gerichtet.  13.e4 wäre immer noch ein guter Zug gewesen:

13…dxe4 14.dxe4 Le6 15.Sc4Lasker muss seinen weissfeldrigen Läufer hergeben.

13…Lg6 14.Sh4 Lh5 15.Sf5 De6 16.Dc1.

13…Lg4 14.exd5 Sxd5 15.Sc4 mit gewaltigem Druck auf e5. Laut Computer kommt er nur noch mit 15…b5 16.Sxd6 Dxd6 davon.

Réti beharrt auf Da1 und macht den einzigen Zug, der dies ermöglicht. Gesunder Menschenverstand schien nicht Rétis Domäne zu sein, es ist offensichtlich, dass dies seine Stellung ruiniert.

13.a4?! h6?!

Er lässt noch immer 14.e4 zu. 13…Lc5 hätte dies verhindert.

14.Da1 Tfe8 15.Tfc1 Lh7

Das Ergebnis von Rétis Lieblingsmanöver war ein Desaster. Er fängt an herum zu ziehen.

16.Sf1 Sc5 17.Txc5 Lxc5 18.Sxe5

Immerhin konnte er auf Kosten einer Qualität das schwarze Bauernzentrum zerstören.

18…Tac8 19.Se3 De6 20.h3 Ld6?

Ein grober Fehler, der den d-Bauern einstellt. 21.S5g4 Sxg4 22.hxg4 Lxg3 23.Lxd5 Db6 24.Kf1 Lb8 25.Dc4 illustriert, wie gewaltig Weiss steht.

21.Txc8?! Txc8?

Er musste mit 21…Dxc8 d5 aufgeben, denn 22.S5g4 hätte in eine verbesserte Version oben genannter Variante eingelenkt. 23.Sxg4 24.Lxd5 Dd7 25.Sxg4. Die Herren bleiben beim „Positionsspiel“.

22.Sf3? Le7 23.Sd4 Dd7 24.Kh2 h5 25.Dh1

Réti ist sehr von seinem System eingenommen. Der Zug bringt ihn wieder in Schwierigkeiten. 25.Sb5 glich bequem aus.

25… h4 26.Sxd5 hxg3+ 27.fxg3 Sxd5 28.Lxd5 Lf6 29.Lxb7?

Der entscheidende Fehler. Mit 29.Df3 hätte er vielleicht überlebt.

29…Tc5 30.La6 Lg6 31.Db7 Dd8

31…Dd6 hätte 32.b4 wegen 32…Tg5 verhindert. Im entstehenden Endspiel hat Weiss Remischancen.

32.b4 Tc7 33.Db6 Td7 34.Dxd8+ Txd8 35.e3 axb4 36.Kg2 Lxd4 37.exd4 Lf5 38.Lb7 Le6 39.Kf3 Lb3 40.Lc6 Td6 41.Lb5 Tf6+ 42.Ke3 Te6+ 43.Kf4? Te2 44.Lc1 Tc2 45.Le3 Ld5 0–1

Richard Réti wurde in seinem Büchlein „Die neuen Ideen im Schachspiel“ nicht müde, das Genie Gyula Breyers zu loben. Die folgende Partie hätten möglicherweise auch zwei heutige Spitzengrossmeister gespielt haben können.

Gyula Breyer – Kornel Havasi
Budapest, 1918

1.d4 Sf6 2.Sd2 d5 3.e3 Lf5 4.c4 c6 5.Sgf3 e6 6.Le2 Ld6 7.c5! Lc7 8.b4 Sbd7 9.Lb2 Se4 10.Sxe4 dxe4 11.Sd2 Sf6 12.g4!! Lg6 13.h4 h5 14.gxh5! Sxh5 15.Dc2 Sf6 16.0–0–0 Lf5 17.Tdg1 Kf8! 18.h5! a5 19.b5! cxb5 20.Lxb5 Txh5 21.d5! Txh1 22.Txh1 Kg8 23.d6 Lb8 24.Sc4 La7 25.Ld4 Tc8 26.f4!! Lxc5 27.d7! Sxd7 28.Dh2 f6 29.Lxc5 Sxc5 30.Dh8+ Kf7 31.Le8+! 1-0

Die Ausrufezeichen stammen allesamt von Réti. Ich sehe nicht ein, weshalb man korrekten Zügen ein Ausrufezeichen anhängen sollte. Richtig wäre es vielmehr, Fehlern ein Fragezeichen anzuhängen. Dies könnte man beim 18. Zug von Schwarz und beim 26. von Weiss tun, welchem Réti zwei Ausrufezeichen gibt, sicher aber beim entscheidenden Fehler im 27. Zug von Schwarz.

Gyula Breyer lernte mit 14 Jahren Schach spielen, hatte mit 17 Jahren Meisterstärke, und starb mt 28 Jahren an einer Herzschwäche. Er hatte ein hervorragendes Gedächtnis, und hat einmal 25 Partien Blindsimultan gespielt. Von ihm sind etwa 200 Partien erhalten.

Seine Spielweise war höchst ungesund, aber für die damalige Schachauffassung ungeheuer, geradezu revolutionär. In vielen seiner Partien stand er auf Verlust, aber seine Gegner konnten das selten ausnutzen. Ein Beispiel:

Max Euwe – Gyula Breyer
Wien 1921
1.e4 Sc6 2.Sc3 Sf6 3.d4 e5 4.dxe5 Sxe5 5.f4 Sc6 6.e5 Sg8 7.Lc4 d6 8.Sf3 Lg4 9.0–0 Dd7 10.De1 0–0–0 11.Sg5 dxe5 12.Kh1 f6 13.Sf7 Sa5 14.Sxd8 Sxc4 15.De4 Sd6 16.Db4 Le7 17.fxe5 fxe5 18.Sxb7 Sxb7 19.Tf8+ Lxf8 20.Dxf8+ Dd8 21.Dxg7 Sf6 22.Lg5 Tg8 23.Dh6 Tg6 24.Dh4 Sd6 25.Tf1 Sf5 26.Dxg4 Sxg4 27.Lxd8 Sge3 28.Tf3 Kxd8 29.h3 Tg3 30.Txg3 Sxg3+ 0–1

Wenn Breyer einmal gut stand, kombinierte er schon fast computerhaft genau.

Gyula Breyer – Johannes Esser
Budapest, 1917

1.d4 d5 2.c4 c6 3.e3 Sf6 4.Sc3 e6 5.Ld3 Ld6 6.f4 0–0 7.Sf3 dxc4 8.Lb1

Auch diese Partie kommentiert Richard Réti in den „neuen Ideen“. Selbstverständlich vergibt er für diesen Zug ein Ausrufezeichen.

Es liegt nahe, jetzt mit 8…c5 9.0-0 Sc6 das Zentrum anzugreifen, wonach Weiss nicht gerade auf Verlust, aber bereits kritisch steht.

Statt dessen deckt Schwarz einen Bauern, der nicht einmal angegriffen ist.

8…b5 9.e4 Le7 10.Sg5 h6 11.h4

Prompt hat er mit 10.Sg5 eine Schwächung der Bauernstellung provoziert.

Es gibt drei methodische Züge:

11…c5 12.e5 Sd5 13.Dc2 g6 14.h5 cxd4 15.hxg6 d3 16.gxf7+ Kg7.

11…e5 12.fxe5 Lg4 13.Sf3 Sh5.

11…b4 12.e5 bxc3 13.exf6 Lb4 14.Dc2 cxb2+ 15.Kf2 g6 16.Lxb2 Dxf6.

11…g6 12.e5 hxg5

13.exf6 Lxf6 14.hxg5 Lxd4 15.Df3 wäre korrekt gewesen. Weiss hat schöne Kompensation.

13.hxg5 Sd5 14.Kf1

Ein cleverer Zug. Er rechnet damit, dass Schwarz nun 14…Kg7 zieht, und möchte dann nach 15.Th7+ Kxh7 16.Dh5+ Kg8 17.Lxg6 fxg6 18.Dxg6+ Kh8 19.Dh6+ Kg8 20.g6 auf Gewinn spielen, was aber nicht geht, wenn der Läufer auf h4 ein Schach hat, 20…Lh4+ 21.Kf1 De7 und gewinnt.

Es ist bereits nicht mehr einfach zu sehen, wie Schwarz über ein Remis heraus kommen will. Egal, was er zieht, als nächstes kommt Dg4, was Kg7 erzwingt, und dann schlägt Weiss mit Th7+ zu. Das Problem bei der Computeranalyse ist, dass die Computer dieses Th7+ einfach nicht sehen wollen.

Hätte man nicht g6 decken können, was die Kombination verhindert? 14…De8 15.Se4 Sd7. Weiss überlebt mittels 16.g4 Kg7 17.f5 exf5 18.gxf5 Th8 19.f6+

Schwarz entfernt richtigerweise den gefährlichen Springer.

14…Sxc3 15.bxc3 Lb7?

Aber was soll das sein? Tatsächlich war sein 14. Zug korrekt. Er hätte hier mit 15…De8 die Verteidigung Kg7 nebst Th8 organisieren, und damit aller Voraussicht nach gewinnen können.

Ab sofort spielt Weiss bei sicherem Remis auf Gewinn.

16.Dg4 Kg7 17.Th7+ Kxh7 18.Dh5+ Kg8 19.Lxg6 fxg6 20.Dxg6+ Kh8 21.Dh6+ Kg8 22.g6 Tf7 23.gxf7+ Kxf7 24.Dh5+ Kg7??

Nach 24…Kg8 muss Weiss ewig Schach geben, Réti hätte die Partie nicht kommentiert, und ich sie nicht ausgegraben.

25.f5 exf5 26.Lh6+ Kh7 27.Lg5+ Kg8 28.Dg6+ Kh8 1–0

Denn es kommt 29.Lf6+ Lxf6 30.exf6 Dg8 31.Dh5+ Dh7 32.De8+ Dg8 33.f7. Breyer hat auf seine Art das Schach des 21. Jahrhunderts um 100 Jahre voweggenommen.

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