Schachblindheit

Als ich eines Abends im September 2012 gerade meine Partie gegen Kortschnoi kommentierte, schaute ich nebenbei im Internet live dem Masters in Sao Paulo zu. Am meisten interessierte mich die Partie zwischen den zu der Zeit zwei stärksten Spielern der Weltrangliste.

Magnus Carlsen – Levon Aronian
Chess Masters, Sao Paulo, 28.9.2012

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.d3 Lc5 5.Lxc6 dxc6 6.Sbd2 Le6 7.0–0 Ld6 8.b3 Sd7 9.Sc4 Lxc4 10.bxc4 0–0 11.Tb1 b6 12.g3 f5 13.exf5 Txf5 14.De2 Sc5 15.Le3 Se6 16.Sd2 Df6 17.Dg4 Tf8 18.Se4 Df7 19.a4 h5 20.De2 Le7 21.a5 Dg6 22.axb6 axb6 23.Kh1 Tf3 24.Tbe1 Lb4 25.Ta1 Dg4 26.Dd1 Dh3 27.Lf4??

 Leider verpasste ich diesen Moment. Als ich zurückkam,  war der Chat „explodiert“. 1900-er behaupteten, dass sie „es“ auch ohne Engine sofort gesehen hätten. Tatsächlich ist die Kombination einfach:

27…T8xf4 28.exf4 Sxf4 29.Ta8+ Lf8 30.Tg1 Dxh2 31.Kxh2 Th3#.

27…Lc3?? 28.Dxf3 Lxa1 29.Dg2 Df5 30.Ld2 Ld4

Die Partie endete nach 48 Zügen remis.

Schachblindheit befällt auch die Allergrössten. Der Vorfall könnte ungefähr so abgelaufen sein: Carlsen hatte als erstes 27.Lf4 oberflächlich geprüft und gefunden, dass darauf 27…Lc3 klaren Ausgleich ergibt. Dasselbe hatte auch Aronian gesehen.

Danach wandten sie sich schwierigeren Problemen, Zügen wie 27.De2 und 27.Tg1 zu, Vielleicht kam in ihrer Berechnung die Variante 27.De2 h4 28. Tg1 Le7 29. Df1 Dg4 zustande, wonach nichts Besseres als eine Zugwiederholung mit 30.De2 drin zu sein schien. Also warum nicht gleich abwickeln? Schon war es passiert.

Möglich ist auch, dass es sich bei Carlsen um das Kotow-Syndrom handelte: Er brütete einige Zeit über allerlei positionellen Problemen, und auf einmal „sah“ er 27.Lf4…

Aronian sagte im Interview nach der Partie, dass er zusehends knapper an Zeit war und beschlossen hatte, schneller zu spielen. Er habe deshalb einfach Magnus‘ Berechnung „geglaubt“.

Doppelböcke dieser Art kommen häufig vor. Beide Spieler sehen eine scheinbar einfache, auf der Hand liegende Abwicklung mit klarem Resultat, danach wendet sich der Geist andern, viel schwierigeren Zügen zu, die ihnen sozusagen den ganzen Schachverstand absorbieren, aber kein besseres Resultat bringen. Jetzt brauchen beide nur noch impulsiv zu ziehen.

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