Ein Zwilling

Zwillingsaufgaben sind Schachprobleme, in denen zwei ähnliche Stellungen zwei verschiedene Lösungen haben. GM Pal Benkö hat sogar Elflinge zur Welt gebracht, siehe Pal Benko – elf „Zwillinge“. Im Partieschach ist sowas sehr selten. Ich habe gerade angeregte schachphilosophische Diskussionen mit Gerard Welling, dem Autor von „Side-Stepping Mainline Theory„. Kurz nachdem er mir eine seiner Partien gesandt hatte, fand ich per Zufall einen Zwilling dazu.

Gerard Welling – Urs Rüetschi
Biel, Meisterturnier 1981
1.e4 Sf6 2.Sc3 d5 3.d4 dxe4 4.f3 exf3 5.Sxf3 Lg4 6.h3 Lh5 7.g4 Lg6 8.Se5 e6 9.Lg2 c6 10.h4 Lb4 11.O-O Sd5 12.Sxd5 exd5 13.h5 f6 14.Sxg6 hxg6 15.Dd3 gxh5 16. gxh5 Sd7 17.Dg6+ Kf8 18.h6 De7 19.c3 Ld6 20.Lh3 Td8 21.Lxd7 Txd7 22.hxg7+ Dxg7 23.Txf6+ Kg8 24.Lg5 Dxg6 25.Txg6+ Tg7 26.Txg7+ Kxg7 27.Tf1 Tf8 28.Txf8 Lxf8 29. Kf2 Kg6 30.Lf4 Kf5 31. Kf3 a6 32.Lc1 Le7 33.Lf4 Lh4 34.Ld2 1/2-1/2

1.e4 Sf6 2.Sc3 d5 3.d4 dxe4 4.f3 exf3 5.Sxf3

Auf Umwegen ist ein Blackmar-Diemer-Gambit entstanden. Das ist längst nicht mehr so beliebt, wie etwa in den 1960-er Jahren, wo es sogar im Fernschach einen Boom erlebte. Es hat eine sagenhafte Bilanz von 66.7% Gewinnprozenten, und sowohl im Fernschach der Vorcomputerzeit als auch im Nahschach schneidet hier der Zug 5…g6 relativ am besten ab. Auch Stockfish bevorzugt ihn, und mit der Bewertung von -1 dokumentiert er dass Schwarz einfach einen gesunden Bauern mehr hat.

Die beiden Spieler folgen der damaligen „Mainline Theory“

5…Lg4 6.h3 Lh5 7.g4 Lg6 8.Se5 e6 9.Lg2 c6 10.h4 Lb4 11.O-O

Bis hierhin alles „Buch“.

Der beliebteste Zug ist hier 11…Lxc2, nach 12.Dd2 O-O 13.Df2 oder 13.Tf4 hat Weiss gute Kompensation.

Auch das „normale“ 11…Sbd7 ist spielbar. Weiss sollte mit 12.De2 das Tauschverbot respektieren und nicht 12.Sxd7 Dxd7 13.h5 spielen (Welling-Douven, Eindhoven 1982), weil nun 13…Lxc2 14.Dxc2 Dxd4+ 15.Df2 Dxg4 Schwarz ausgezeichnete Chancen gibt.

11...Sd5? 12.Sxd5 exd5 13.h5 f6 14.Sxg6 hxg6 15.Dd3 gxh5 16. gxh5 Sd7 17.Dg6+ Kf8 18.h6 De7 19.c3 Ld6 20.Lh3 Td8

Das war alles mehr oder weniger forciert. Über diese Stellung hatte ich mit Schachlehrer Andrin Wüest eine angeregte Diskussion, als er gerade dabei war, Beispiele für prophylaktische Züge im Schach zu sammeln. Er hat daraufhin seine Sammlung unterteilt in „Prophylaxe im Angriff“ und „positionelle Prophylaxe“.

Nun, ich halte nichts von Prophylaxe. Das ist nämlich einfach meine Regel Nr. 1, gegnerische Drohungen erkennen. Aber es gibt einen wesentlichen Unterschied, nämlich meine Regel Nr. 2, übertrumpfen. Man sollte immer zunächst nach Zügen Ausschau halten, die die gegnerische Drohung ignorieren, indem sie eine stärkere Drohung aufstellen. Erst wenn es keine solchen Züge gibt, muss die Drohung bedient werden. Das ist hier der Fall. Schwarz droht sich mit 21…Df7 zu konsolidieren, und eine stärkere Gegendrohung dagegen gibt es nicht.

Die Lösung lautet 21.Le6, was 21…Df7 verhindert. Der Zug ist auf den ersten Blick rein prophylaktisch und stellt keine direkte Drohung auf. Schwarz hat keine vernünftigen Züge, vielleicht noch 21…Te8 aber dann droht 22.Ld2 bereits entscheidend 23.Tae1. Eine andere Argumentation wäre daher, dass 21.Ld2 an 21…Df7 scheitert, und 21.Le6 diesen Zug erst mal aus dem Spiel nimmt.

21.Lf5 Df7 22.Dg4 gxh6 23.Kh1 hätte auch gewonnen, auch nicht auf direktem Weg, sondern rein durch die Erhöhung des Drucks auf den Königsflügel, allerdings viel komplizierter als 21.Le6.

Ein wirklich kurioser Fall. Ich habe irgendwo geschrieben, dass das schwierigste im Schach das Erkennen der Hilflosigkeit ist. Gerard konnte sich erinnern, dass die beiden Spieler den Zug überhaupt nicht gesehen haben und erst ein Kiebitz ihn bei der Analyse vorschlug.

21.Lxd7?

Gerard hat mir berichtet, dass ein Gegner, der sich auf ihn vorbereitet hatte, seine übertriebene Neigung zu Abtäuschen bemerkte. Was er dann anhand seiner eigenen Partien überprüfte und tatsächlich bestätigt fand.

21…Txd7 22.hxg7+ Dxg7 23.Txf6+ Kg8 24.Lg5 Dxg6 25.Txg6+ Tg7 26.Txg7+ Kxg7 27.Tf1 Tf8 28.Txf8 Lxf8 29. Kf2 Kg6 30.Lf4 Kf5 31. Kf3 a6 32.Lc1 Le7 33.Lf4 Lh4 34.Ld2 1/2-1/2

Den Zwilling fand ich auf dem WC. Dort liegt nämlich Jon Speelmans Buch der Schachaufgaben für längere oder kürzere Sitzungen parat.

Stanislav Savchenko – Sergiy Zavgorodniy, Illichevsk 2006
1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.Dc2 O-O 5.a3 Lxc3+ 6.Dxc3 b6 7.Sf3 Lb7 8.e3 c5 9.b4 d5 10.dxc5 Se4 11.Dc2 bxc5 12.Le2 dxc4 13.Lxc4 Sg5 14.Lb2 Sxf3+ 15.gxf3 cxb4 16.Tg1 f6 17.Lxe6+ Kh8 18.Tg3 De7 19.Dg6 Lc8 20.Th3 1-0

1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.Dc2 O-O 5.a3 Lxc3+ 6.Dxc3 b6 7.Sf3 Lb7 8.e3 c5 9.b4 d5 10.dxc5 Se4 11.Dc2 bxc5 12.Le2 dxc4 13.Lxc4 Sg5?

Schwarz hatte bequem ausgeglichen, aber jetzt veranstaltet er ein ziemliches Theater, um seinen schönen Springer abzutauschen und Weiss die g-Linie zu öffnen.

14.Lb2 Sxf3+ 15.gxf3 cxb4?

Und jetzt noch dies. Relativ am besten war noch 15…De7 16.Tg1 f6.

15…Lxf3 geht nicht, wegen 16.Tg1 g6 17.Tg3 Lh5 18.Dc3.

16.Tg1 f6 17.Lxe6+ Kh8 18.Tg3 De7

Hier ist er, der Zwilling. Schwarz droht, den Läufer zu nehmen, und wenn der zieht, ist er aus dem Schneider.

19.Dg6

Das verhindert nicht nur Dxe6, sondern erzwingt auch das Matt auf der h-Linie. Etwa 19…Sc6 20.Th3 h6 21.Lf5 Kg8 22.Txh6.

Ja was nun? Ist das jetzt Prophylaxe oder Übertrumpfen? die Antwort lautet: Übertrumpfen, mit einer Prise Prophylaxe. Der Damenzug verhindert Dxe6, weil g7 bedroht ist, hxg6 geht wegen Matt nicht, aber es droht auch vernichtend und undeckbar Th3. In meiner Denkweise stellt Dg6 die tödliche Drohung Th3 auf. Dass Dame und Läufer tabu sind, ist offensichtlich.

19…Lc8 20.Th3 1-0

Er mochte sich 20…h6 21.Txh6+ gxh6 22.Dxh6+ Dh7 23.Dxf8+ nicht mehr zeigen lassen.

Im ersten Zwilling sind wir noch versucht, an das Wunder der Prophylaxe zu glauben. Aber auch dort ist die Drohung das Entscheidende, für einmal aber nicht direkt, sondern langfristig, sofern man die zwei Züge Ld2 und Tae1 als ‚langfristig‘ bezeichnen will.

Mark Dworetzki sagt: „Das prophylaktische Denken ist gleichzeitig eine Gewohnheit, sich ständig zu fragen, was hat mein Gegner vor, wie würde er jetzt am Zug spielen, sowie die Fähigkeit eine Antwort auf diese Fragen zu finden und sie in den eigenen Überlegungen zu berücksichtigen.“ Das ist meines Erachtens selbstverständlich, und Magnus Carlsen sagt Ähnliches. Schon Adriaan de Groot hat darauf hingewiesen, dass sich Grossmeister gewohnheitsmässig und viel mehr als Amateure um gegnerische Drohungen kümmern.

Prophylaktisches Denken ist ein Teil des Schachdenkens, aber nicht mehr als das. Nimzowitschs Ansatz, Prophylaxe zu einem System zu erheben, halte ich für völlig verfehlt. Selbstverständlich hat jeder Zug einen prophylaktischen Hintergrund, geht es ja bei der Zugwahl darum, die eigenen Optionen zu vermehren oder die gegnerischen einzuschränken. Im letzteren Fall ist Vorsicht nichts anderes als eine gesunde Einstellung.