„Jeder Schachspieler, der schwächste und der stärkste, hat – bewusst oder unbewusst – gewisse allgemeine Grundsätze, von denen er sich in der Wahl seiner Züge leiten lässt.“
Richard Réti, „Die neuen Ideen im Schachspiel“, 1922.
Ich versuche am Brett folgendermassen zu denken:
- Zuerst stelle ich fest, was mein Gegner droht, und wieviel seine Drohung wert ist.
- Dann suche ich für mich Drohungen, die stärker sind als seine.
- Ich prüfe die Züge, die ich gefunden habe, auf Konter und Gegendrohungen.
- Durch diese Betrachtungen kann ich vergleichend feststellen, welcher Zug die härteste Drohung darstellt. Diesen Zug spiele ich.
Es ist natürlich nicht so, dass ich jedesmal das selbe Programm herunterspule:
In der Eröffnung folge ich meiner Vorbereitung. Es ist aber gut möglich, dass diese schon im dritten Zuge aufhört.
Kann ich seine Drohungen übertrumpfen, stehe ich gut, muss ich seine Drohungen bedienen, stehe ich schlecht.
Es kann aber gut sein, dass er gerade meine Drohung übertrumpft hat. Wenn ich nun seine bediene , aktiviere ich wieder meine eigene, und so weiter. Dieses Hin und Her ist für ausgeglichene Stellungen typisch.
In ausgeglichenen Stellungen, in denen es keine Drohungen gibt, versuche ich Druck zu machen, d.h. Drohungen vorzubereiten und Fallen zu stellen.
Wenn ich auf Verlust stehe, ist es sinnvoll, seine Drohungen zu antizipieren, wenn das noch möglich ist, zum Beispiel Schachs von vorneherein aus dem Weg zu gehen.
„Grossmeister widmen sich meist ausführlich den Drohungen, die der letzte gegnerische Zug aufstellt.“
Adriaan de Groot, “Thought and Choice in Chess”, 1965
Es gibt noch jemand, der eine Methode propagiert, es ist „der berühmte Trainer“ Jossif Dorfman. Ich habe eine Zeitlang versucht, dieser Methode zu folgen. Man sieht die Dinge dann tatsächlich mit anderen Augen. Aber letztendlich war ich einfach zu faul, und habe es wieder sein lassen.
Der Stümperzug
Anhand dieses Beispiels erläutere ich, wie Keine Pläne! funktioniert.
1.e4 e5. Ich habe nichts gedroht, er droht seinerseits nichts. Jetzt aber habe ich bereits mehrere Drohungen, nämlich 2.Sf3, 2.f4, 2.d4 und 2.Dh5, welche Züge alle den e-Bauern angreifen. Ausserdem kann ich mit 2.Lc4 Druck gegen f7 machen. Ich sehe mir 2.Dh5 an, alle anderen Züge kenne ich, damit ist nichts zu holen, es ist sozusagen schon jetzt tot remis. Klar sehe ich die Kontergefahr durch g7-g6, aber ich finde die erträglich.
2.Dh5
Es gibt zwei Sorten Stümperzüge, nämlich diesen und Sg5. Nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6 hat Tarrasch 4.Sg5 als Stümperzug qualifiziert.
Stümperzüge sind mein Steckenpferd. Etwa 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.d4 exd4 4.Sxd4 Dh4, oder 1.d4 e6 2.c4 b6 3.Sc3 Lb7 4.Dc2 Dh4, oder mit Weiss 1.e4 e5 2.Sc3 Sf6 3.Lc4 Sxe4 4.Dh5.
Tatsächlich gibt es zu praktisch jedem Stümperzug stärkere Alternativen, aber spielbar sind sie allemal, auch dieser, der aber unter dem Strich recht harmlos ist.
Ich übernehme jetzt Schwarz und sehe, dass ich den Bauern mit 2…Sc6, 2…d6, oder 2…De7 decken kann. Aber ich kann die Drohung auch ignorieren und mit 2…Sf6 die Dame angreifen, wonach ich die Initiative bekomme. Die Initiative ist eine Serie von Drohungen, sie kann versanden, durchdringen, oder ewig anhalten. Hier ist wohl ersteres zu vermuten, aber wer weiss.
2…Sf6 3.Dxe5+ Le7
Das war forciert. Was droht nun eigentlich? Am meisten fürchte ich 4…d5, der Angriff auf die Dame durch Sb8-c6 kann warten. In der Verteidigung ist meist am besten, der direkten Drohung aus dem Weg zu gehen. Ich sollte die Dame ziehen, dann kann ich d5 mit e5 beantworten. Der einzige Zug laut Computer wäre nun 4.Df4, wonach Weiss vielleicht überlebt. Eine Variante: 4…0-0 5.Sc3 d5 6.e5 Sg4 (das droht 7…Lg5 nebst 8…Sxe5) 7.Sf3 Sc6 8.h3 g5! 9.Dg3 Sh6, mit ausgeglichener Stellung. Aber was heisst bei Computerprogrammen schon ausgeglichen? Die Stellung ist voller Spannung. Das Programm findet 10.d4, was diesen Bauern einfach einstellt (10…Sf5) am stärksten.
Ich bin kein Computer, sehe zwar ein, dass ich die Dame wegziehen sollte, warum nicht gleich mit einem weiteren Angriff?
4.Dg5 0-0 5.e5
Und noch ein Angriff. Mit 5…h6 treibe ich nur die Dame auf ein besseres Feld: 6.Dg3. 5…Sd5 6.Dg3 Sc67.Sf3, und wie weiter? Aber ich kann die die weisse Drohung übertrumpfen! Also los.
5…Te8
Das ist starker Tobak. Es wehrt die weisse Drohung ab, denn 6.exf6 Lxf6+ verliert die Dame, und so lange ich die e-Linie nicht verstopfe, kann ich den Springer nicht bedrohen. Die konkrete Drohung ist 6…d6, gewinnt den Bauern zurück, und der riesige Entwicklungsvorsprung wird entscheiden.
6.Le2
Das versteht sich von selbst, es übertrumpft wieder die gegnerische Drohung. Der Springer muss weg, aber auch das tut er mit Gegendrohung.
6…Sd5 7.Dg3 Sc6
Er droht nach d4 zu hüpfen. Die weissen Drohungen sind hingegen ausverkauft.
8.Sf3
8…Sb4 kann mit 9.Sa3 verteidigt werden. Aber…
8…d6
… droht etwas. Zudem ist es eine Falle, denn 9.exd6 Lxd6 10.Dh4 Dxh4 11.Sd4 verliert auf der Stelle.
9.d4 dxe5 10.dxe5 Sxe5
Eine Kombination.
11.Sxe5 Lh4 12.Df3 Txe5 13.0-0 Lf5
Schwarz steht besser. Ich fasse zusammen:
2.Dh5 sollte man nicht spielen. Die Dame wird in Konter hineinlaufen.
2…Sf6 ist ein hübsches Gambit. Gambite spielt man, um die Figuren auf Kosten von Bauern schnell ins Spiel zu bringen.
Mit 4.Dg5 läuft Weiss in weitere Konter hinein, obwohl er eine kurzfristige Initiative erhält. Konter sind der Tod der Initiativen.
Nach 5…Te8 kann Weiss nicht mehr Drohungen mit Gegendrohungen beantworten. Er muss sich daher passiv verteidigen, was meist nachteilig, aber vor allem schwierig ist, denn ein falscher Zug kann das Ende bedeuten. Gleichzeitig erhält Schwarz eine lang anhaltende Initiative. Lang anhaltende Initiativen sind immer vorteilhaft.
Lang anhaltende Initiativen erlauben dem Angreifer immer irgendwelche Kombinationen. Das ist ein Schachgesetz!
Der Angreifer muss danach trachten, seine Initiative zu verlängern, indem er Konter vermeidet.
Betrachten wir eine meiner Patzerpartien unter dieser Sichtweise.
Marco Gähler – Werner Kaufmann
Schweizer Mannschaftsmeisterschaft 2014
1.g3 c5 2.Lg2 Sf6
Marco spielt gern geschlossen Sizilianisch, ich nicht. Seinen nächsten Zug hatte ich erwartet, deshalb bereitete ich d7-d5 vor. Damit war auch mein Eröffnungsrepertoire für diese Stellung erschöpft.
3.e4 d5. Ich ergreife die erste Gelegenheit zu einem Angriff.
4.e5, sein Gegenangriff,
4…Sg4, der Gegen-Gegenangriff. Jedenfalls keine Pläne!
5.f4. Er muss decken und tut dies seinem Lieblingsschema entsprechend. 5.Sf3 Sc6 6.De2 war auch spielbar. Früher oder später wird er meinen Springer nach h6 jagen, also warum nicht gleich?
5…Sh6. Der Springer geht einem Angriff aus dem Weg, strebt nach f5, und macht g4 für den Läufer frei. Ein Sowieso-Zug. Er erhöht meine Flexibilität.
6.Sc3 Lg4 7.Sge2. Es ging hin und her mit Angriffen und Gegenangriffen, jetzt aber muss ich decken.
7…e6 8.h3 Lxe2 9.Sxe2. er vermeidet 9.Dxe2 Sc6, und der Springer hüpft mit Tempo nach d4.
9…Sc6 10.0-0. Selbstverständlich sollte ich jetzt 10…Sf5 mit Druck auf g3, ziehen. Dann wäre 11.g4 schlecht wegen 11…Sh4. Ich bin aber von keinen Plänen! bereits derart verseucht, dass ich meinte, hier e5 angreifen zu können.
10…f6? 11.d3. Er demonstriert mir, dass ich überhaupt nichts drohe. Wenn ich den Bauern nehme, wird er auf der e- und f-Linie, sowie auf der Diagonalen h5-e8 über mich herfallen und zudem mit Sf4-e6 drohen. Ausserdem wackelt nun die lange Diagonale beträchtlich, c2-c4 liegt in der Luft.
Das Gescheiteste wäre nun gewesen, mit 11…Sf5 den Springer aus dem verdeckten Angriff durch den Lc1 weg zu ziehen, und damit doch noch ein wenig auf e5 zu drücken. Ich phantasierte aber immer noch an einem weiteren Angriff mittels 11…Sf7 herum, was mir dann wegen 12.f5 oder 12.exf6 doch als zu gefährlich erschien. Mein Hauptproblem war, dass ich mich selbst in eine passive Verteidigung manövriert hatte. „Immerhin“ fand ich noch den zweitbesten Zug. Das ist die Schwierigkeit der Verteidigung, dass zweitbeste Züge meist nicht reichen, so auch hier.
11…Dc7 12.c4 dxc4 13.dxc4 Le7 14.exf6 Lxf6 15.g4 Td8 16.De1 Sf7. Ich hatte keine Alternativen. Er hat halt eben die Initiative und versucht diese zu erhalten, indem er Zug für Zug neue Drohungen aufstellt. Da seine Initiative nun bereits fünf Züge anhält, kann man vermuten, dass es sich um eine langfristige Initiative handelt, an deren Ende immer eine Kombination kommt.
Der Zeitpunkt für die Kombination ist tatsächlich gekommen. 17.f5!, schlage ich diesen Bauern, 17…exf5, so kommt 18.Sd4+ nebst 19.Se6, und Qualitätsgewinn. Rochiere ich, so nimmt er einfach den Bauern und behält ihn; Ressourcen, ihn zu decken, hat er ja genügend, in Sf4 und Ld5. Bleibt noch das unerquickliche 17…De7 18.fxe6 Dxe6 19.Ld5 De7 20.Sf4, wonach ich wieder die Qualität verliere.
Keiner von uns beiden hat den Zug gesehen, auch in der gemeinsamen Analyse nicht. Warum das? Ganz einfach, weil unser Denken von positionellen Erwägungen blockiert ist. Ich habe einen isolierten Schwächling auf e6. Es ist von Weiss geradezu unanständig, diesen abtauschen zu wollen. 17.f5 ist für Patzer so gut wie unsichtbar. Kommt hinzu, dass der Textzug höchst verlockend erscheint.
Nachtrag (2020) Dieses „abtauschen wollen“ ist genau der Denkfehler. 17.f5 ist zuerst und zuvorderst ein Angriffszug, und muss allein schon deswegen zuallererst betrachtet werden.
17.g5 Ld4+
Er hatte 17…Le7 erwartet, denn jetzt darf er mit Läuferpaar gegen Springerpaar spielen, wieder so eine positionelle Verlockung, und ausserdem scheint mich sein übernächster Zug platt zu machen. Ich selber zog 17…Le7 nicht einmal in Betracht, da ich keine Lust hatte, mich positionell zerquetschen zu lassen. Ich prüfte das Schach oberflächlich und sah keinen direkten Gewinn für ihn. Wenn es denn einen gegeben hätte, hätte ich ihm zum schönen Spiel gratuliert.
18.Sxd4 Sxd4 19.f5 0-0. Hier versank er in langes Nachdenken. Er berechnete 20.fxe6 Se5 21.Lf4 Txf4 22.Txf4 Sd3, mit Figurenverlust. Ihm entging, dass 23.e7! auf der Stelle gewinnt. Ich hingegen hatte es gesehen, und hätte 21…Sef3+gezogen. 22.Lxf3 Dxf4 23.Lg2 Dxg5 24.De4 De7, und ich werde es überleben.
20.f6? Das Ergebnis einer verzweifelten Suche nach Alternativen. Wenn 20.fxe6 nicht geht, verliert er unweigerlich Material. Ich sah kein Matt für ihn, und sackte die Qualität ein.
20…Sc2 21.Dc3? Wie üblich, folgt auf einen Fehler der nächste. Er hätte sich auf e6 bedienen sollen. Nach 21.Dxe6 Sxa1 22.Lf4 Dd7 23.Dxd7 Txd7 24,Txa1 ist noch längst nicht aller Tage Abend, im Gegenteil, er hätte ganz gute Remischancen. So aber ist der Fall klar.
21…Sxa1 22.fxg7 Tfe8 23.Df6 De7 24.Df2 Se5 25.Le3 Sxc4 26.Lxc5 Dxg7 27.Txa1 b6 28.Lb4 Sxb2 0-1
Nachdem sich seine letzte Hoffnung 28…Dxb2 29.Dxb2 Sxb2 30.Lc6 zerschlagen hatte, gab er auf.
Felix Csajka – Fritz Mühlebach
Schweizerische Mannschaftsmeisterschaft 2014
1. d4 Sf6 2. c4 d6 3. Sc3 g6 4. e4 Lg7 5. h3 O-O 6. Sf3 e5 7.d5 Sh5 8. Sh2 De8 9. Le2 Sf4 10. Lf3 f5 11. g3 Sxh3 12. Lg2 Df7 13. Sf3 fxe4 14. Sxe4 Lg4 15. Txh3
Bei dieser Partie sass ich am Nebenbrett und langweilte mich in einem giuoco pianissimo. Da sah ich aus dem Augenwinkel, dass Weiss soeben mit dem Turm auf h3 geschlagen hatte. Das war interessant. Mein erster Gedanke war 15…Df5, nach meiner Methode, Punkt 1-3, völlig logisch. Weiss hat eine Figur geschlagen, und droht, sie zu behalten. Mit 15…Df5 übertrumpfe ich seine Drohung, indem ich Turm und Springer angreife, auf 16.Seg5, was beide deckt, kommt 16…e4. Simpel und einfach. Fritz spielte statt dessen 15…Lxf3 und stand etwas schlechter. Ein paar Tage später fragte ich ihn, warum er nicht 15…Df5 gespielt hätte. Er war völlig perplex: „Was, das siehst du? Das hat sogar ein GM mit 2550 übersehen!“ Ich versuchte ihm die Sache mit dem Übertrumpfen zu erklären, aber er hat es, glaube ich, nicht kapiert. Statt dessen meinte er, dass er eben in dieser Stellung nicht alle Kotowschen Kandidatenzüge angeschaut hätte. Mag sein. Der GM hat es nicht gesehen, Felix hat es ebenfalls nicht gesehen, dann haben sie noch gemeinsam analysiert, wieder nichts, und dann waren alle völlig konsterniert, als es ihnen der Computer unter die Nase gerieben hat.
Vladimir Paleologu – Werner Kaufmann
SMM, 31.05.2015
1.e4 e5 2.Sf3
Wenn ich stur am Prinzip, Drohungen mit Gegendrohungen zu beantworten, festhielte, müsste ich hier 2…Sf6 spielen. Gut möglich, dass dies im „wissenschaftlichen“ Sinne am besten ist.
2…Sc6 3.Lc4
Er hat keine direkten Drohungen, aber methodisch gesehen empfiehlt es sich, Druck zu machen, was heisst, Drohungen vorzubereiten. Dazu war auch 3.Lb5 geeignet. Sein Zug droht, f7 ein zweites Mal anzugreifen. Ich konnte auch 3…Lc5 ziehen, um nach 4.Sg5 mit 4…0-0 f7 ein zweites Mal zu decken. Mein Zug 3…Sf6 ist ein direkter Angriff auf e4, den er respektieren muss, etwa mit 4.d3, denn das fahrlässige 4.0-0 verliert nach 4…Sxe4 einen Bauern.
3…Sf6 4.Sg5 d5 5.exd5 Sa5 6.Lb5+
Hier wäre 6…c6 7.dxc6 bxc6 methodisch, was ich „akademisch“ gesehen für stärker halte als meinen Textzug. Ich opfere einen Bauern, um meine Figuren zügig zu entwickeln und später mit meinen entwickelten Figuren direkte Drohungen aufzustellen.
6…Ld7 7.De2 Le7
Das bedient zunächst seine Drohung, e5 mit Schach zu schlagen.
Anhand dieser Partie versuche ich, Aussagen über die Härte von Drohungen zu machen. In dieser Stellung hat er einen Bauern mehr. Diesen drohe ich nun zurückzuholen, was er mir nicht ohne weiteres zugestehen kann, denn ich habe bereits alle Figuren entwickelt, es fehlt nur noch die Rochade. Er hat seinerseits ebenfalls noch nicht rochiert, aber zusätzlich ist sein kompletter Damenflügel noch zu Hause. „Härte“ ist eine relativer Begriff, meine Drohung ist wohl „weich“ aber immer noch substanziell. Bei Materialgleichheit wäre er nämlich wegen meiner überlegenen Entwicklung im Nachteil. Er hat prinzipiell zwei Möglichkeiten, entweder kann er versuchen, den Bauern zu behalten, oder er kann ihn für schnelle Entwicklung zurückgeben.
Ein Versuch, den Bauern zu behalten, ist 8.Dxe5. Das würde nach 8…Lxb5 9.d6 Dxd6 10.Dxb5+ Sc6 11.Sf3 klappen. Aber ich habe 8…0-0, was den Konter d5-d6 ausschaltet, und damit droht, den Lb5 zu nehmen. Mit 9.Lxd7 würde er in den Doppelangriff 9…Sxd7 hineinlaufen und den Sg5 verlieren. Zusätzlich zu 9…Lxb5 drohe ich, ihm mit 9…Ld6 und 10…Te8+ die Rochade zu verderben. Er steht also bereits einer Doppeldrohung gegenüber. Doppeldrohungen sind immer „hart“, sie zuzulassen ist höchst selten einmal gut. Daher könnten wir die Variante bereits hier beerdigen, aber 9.Le2 scheint doch beides zu bedienen?
Nun könnte man vermuten, dass 9…Ld6 die härteste Drohung darstellt, ich greife immerhin seine Dame an. Geht er nun nach c3, 10.Dc3, kommt 10…Sxd5 11.Dxa5 Dxg5. Aber die Dame will ja sowieso nach d4, 10.Dd4 Te8 11.Sc3, er bereitet seine Rochade vor und ich habe keine offensichtlichen direkten Drohungen mehr.
Als harte Drohung kommt auch 9…Sg4 in Betracht. 10.Lxg4 Lxg4 und der Sg5 hängt. 11.Se4 Ld6 12.Dd4 Te8 13.0-0 und hier habe ich eine Fortsetzung, nämlich 13…Le2 14.Sxd6 Dxd6 15.Te1 und nun 15…Sc6 oder 16…Dg6 mit Mattangriff. Eine befriedigende Variante.
Der Zug 9…Te8 kommt in beiden Varianten vor. Es ist stark zu vermuten, dass das die bereits vorhandenen Drohungen entscheidend verstärkt, und somit die härteste Drohung darstellt. Tatsächlich, auf 10.Sc3 Sg4 verliert er eine Figur, die er am besten mit 11.Sxf7 Sxe5 12.Sxd8 Taxd8 hergibt. Immerhin bekommt er drei Bauern dafür, aber das dürfte nicht reichen. Die Alternative ist 10.Dd4 c5, wonach die Initiative nach 11.dxc6 Sxc6 übermächtig wird. Es ist schon bemerkenswert, dass öfters die Drohung stärker als ihre Ausführung ist, nämlich genau dann, wenn sie mit einem Sowieso-Zug verstärkt werden kann.
Zurück zur Partiestellung nach 7…Le7. Hier wurde schon vieles versucht. Der meistgespielte Zug ist 8.Sc3. Am meisten Erfolg hatte Weiss hingegen mit 8.Sf3, am zweitbesten schnitt der Partiezug 8.0-0 ab. Aber es kommen auch 8.Lxd7+ und 8.d4, sowie das scharfe 8.b4 und das exotische 8.Ld3 in Betracht.
Auf 8.Sc3 hatte ich 8…Lxb5 9.Dxb5+ c6 10.dxc6 Sxc6 parat. Das ist eine typische Gambitstellung. Er hat einen Bauern für den Entwicklungsrückstand, ich Positionsvorteil, aber keine wirklich konkreten Angriffsmöglichkeiten. Nimmt er nun mit 11.Dxb7 einen zweiten Bauern, halte ich mich nach 11…Sd4 12.0-0 0-0 auf c2 schadlos.
Hoch interessant ist die neue Idee 8.Lxd7+ Dxd7 9.c4, was vorerst den Bauern behalten, und zusätzlich die schlechte Stellung des Sa5 ausnützen will, was in der Variante 9…0-0 10.d3 c6 11.Ld2 zum Tragen kommt. Schwarz sollte entweder mit 9…Sxd5 10.exd5 Lxg5 11.Dxe5+ De7 12.Dxe7+ Lxe7 ausgleichen oder nach 9…c6 10.d4 cxd4 11.Ld2 mit 11…0-0 eine Figur opfern. Der Computer setzt fort mit 12.0-0 Te8 13.Dd3 b6 14.Lxa5 bxa5 15.dxc6 Dg4, mit scharfem Spiel.
Die Verwicklungen nach 8.b4 Sxd5 9.Sxf7 Lxb5 10.Dxb5+ c6 11.De2 Kxf7 12.bxa5 sind eher zugunsten von Schwarz.
8.d4 exd4 ist nicht gut, denn sowohl 9.b4 0-0 10.bxa5 Lb4+ 11.Kd1 Te8 12.Dd3 Lxb5 13.Dxb5 Sxd5, als auch 9.Ld2 0–0 10.Lxa5 Sxd5 11.Se4 Sf4 12.Df1 Te8 13.Lxd7 Dxd7 führen zu tödlichen Opferangriffen für Schwarz.
Nun zum erfolgreichsten Zug, 8.Sf3, mit der primitiven Absicht, auf d7 zu tauschen, e5 wegzunehmen, und einen Bauern mehr zu behalten. Wie es aussieht, sollte Schwarz wirklich 8…Sxd5 9.Lxd7+ Dxd7 10.Sxe5 De6 11.Sf3 Dxe2 12.Kxe2 0-0-0 probieren, aber es ist sehr fraglich, ob er nach 13.Sc3 genug Kompensation für den Bauern hat. Ich würde die Alternative 8…0–0 9.Lxd7 Dxd7 10.Sxe5 Dxd5 11.0–0 wählen, wonach ich wenigstens die Dame behalte und nach 11…Ld6 12.Sf3 Dh5 Angriffsaussichten habe.
Im praktischen Sinne ist wohl das komplizierte 8.Sf3 e4 vorzuziehen, da alles andere als 9.Se5 schwach ist. In einer Blitzpartie hatte ich einmal 9.Sg5 c6 10.dxc6 bxc6 11.La4 0-0 12.Sxe4 Sxe4 13.Dxe4 und jetzt wäre ich mit 13…Tb8 mit der Drohung Tb4 in Vorteil gekommen. Nach 8.Sf3 e4 9.Se5 c6 10.bxc6 bxc6 11.La4 0-0 12.Sxd7 Sxd7 ist vielleicht nicht genug Kompensation da, aber es ist immerhin kompliziert, so geht gerade 13.Dxe4 wegen 13…Sc5 nicht, weil er den La4 verliert..
Sein Zug ist der einzige Versuch, den Bauern für schnelle Entwicklung zurückzugeben.
8.0–0 Sxd5 9.Lxd7+ Dxd7 Sf3
Eigentlich musste seine Rochade die falsche Idee sein. Er gibt den Bauern sofort zurück, ohne dabei seine Entwicklung wirklich zu beschleunigen.
Damit kommen wir erneut zu den „unsichtbaren Zügen“, die in jeder Schachpartie eine grosse Rolle spielen. Ich sah den Partiezug 10…f6, aber er gefiel mir nicht. Dann wandte ich mich oberflächlich 10…Sf4 und 10…Sc6 zu. Es gehört schon ziemlich viel Überzeugung dazu, einen eben zurück gewonnenen Bauern einfach wieder herzuschenken, auch wenn man die Probleme erkennt, die der natürliche Zug einem bescheren wird. Unsichtbare Züge sind solche, die man aus positionellen Erwägungen gar nicht in Betracht zieht, oder nach kurzer Überlegung gleich verwirft.
10…Sc6 11.Sxe5 Sxe5 12.Dxe5 0-0-0 war dem Textzug entschieden vorzuziehen. Ich sah, dass ich genug Kompensation haben würde, aber dann entschied ich mich doch gegen den „Bauernverlust“.
Ebenso erwog ich 10…Sf4 11.Dxe5 Dg4 12.g3 Dxf3 13.Dxf4 Dxf4 14.gxf4 0-0-0 und verwarf es schon wieder wegen dem „Minus-Bauern“. Angesichts des Stellungsvorteils, welchen mir der Computer hier demonstriert, kann ich nur den Kopf schütteln.
Ich muss beifügen, dass meine Mannschaftskollegen geradezu Schlange standen, um sich die Partie vorführen zu lassen. Keiner von ihnen sah hier etwas anderes als 10…f6.
10…f6 11.d4 exd4 12.Sxd4
12…0–0 13.c4 Sb6 14.De6+ Dxe6 15.Sxe6 Tfc8 16.b3 konnte mich nicht begeistern, war aber korrekt. Auf einmal hielt ich ein Bauernopfer wieder für die angemessene Option. Warum nicht drei Züge vorher?
13…0–0–0? 13.Se6 Tde8
Dieser historische Augenblick wurde vom Präsidenten Werner Rupp im Schachmuseum Luzern fotografisch verewigt. Links der unverwüstliche Andrin Wüest.
13…Tdg8 ging wegen 14.Td1 nicht.
14.Sxg7 Teg8 15.Sh5
Alle Kiebitze machten spöttische Bemerkungen betreffs der Spielstärke meines Gegners. „Wie kann man so etwas spielen?“, „wann will er denn seinen Damenflügel entwickeln?“ und so weiter. Aber er hatte völlig recht. Hier prallen schachliche Weltanschauungen aufeinander. Er hat einen Bauern mehr und sieht, dass ich nicht die Spur eines Angriffs habe. Ich hingegen glaube, dass mein Entwicklungsvorsprung mir vollautomatisch gefährliche Drohungen verschaffen wird.
Ich habe etwa zwei Sekunden lang an 15…Dc6 gedacht, was zweifellos die härteste Drohung, nämlich 16…Txg2+, aufstellt. Ich verwarf es sofort, weil es den Sa5 verstellt. Schon wieder ein unsichtbarer Zug. Nach dem normalen 16.Sg3 h5 muss er schon aufpassen, es sei denn er findet 17.Sc3 Sxc3 18.Dxe7, aber vielleicht ist auch das für ihn schon unsichtbar.
Ich begann mich mit der Drohung 16.Td1 nebst c2-c4 zu befassen, zweifellos eine harte Drohung, die zum Gewinn reichen würde. Nach ein paar Minuten sah ich die Falle.
15…Sc6
Ich war mir so gut wie sicher, dass er nun 16.Td1 spielen würde. Nach der Partie schlug er 16.Sf4 vor, wobei wir uns einig waren, dass das die Partie halten würde, aber das stimmt nicht, denn nach 16.Sf4 Sd4 17.De4 Sxf4 18.Lxf4 f5 19.Dd3 Dc6 20.Lg3 habe ich das mörderische 20..h5 21.Dxd4 h4. Z.B. 22.Sc3 hxg3 23.Dd5 Db6.
Von allen Kiebitzen hielt einzig Freund Andrin die härteste Drohung 16.Sc3 für „völlig selbstverständlich“. Das war hingegen für Vladimir aus drei Gründen unsichtbar, erst einmal wegen dem Doppelbauern, den er sich damit einhandeln würde, dann, weil er sich nun einmal auf das Durchsetzen von c2-c2 fokussiert hatte, und drittens, weil er meinen Konter übersah. Irgendwie hielt er meinen Turm für wie auf der g-Linie angenagelt.
16.Td1? Td8
Das verhindert 17.c4 wegen 17…Sf4 radikal. Ich erwartete nun 17.Ld2 Sd4 18.De4 Lc5, womit meine Stellung wieder im Lot, und meine Aussichten sehr schön waren. Er hingegen liess sich nicht von seinem Plan abbringen.
17.Td2
Das erneuert die Drohung c2-c4 und brachte ihm viel Spott meiner Mannschaftskollegen ein. Zu Unrecht, denn der Zug ist methodisch und objektiv mindestens gleich gut wie 17.Ld2.
Nun überlegte ich, welche Drohung wohl härter sein würde, 17…Lb4 oder 17. ..The8? Korrekt war 17…Lb4 18.c3 Df7 (unsichtbar, ich war auf 18…Te8 fixiert) 19.Sg3 The8 20.Df1 Ld6 mit gutem Spiel.
17…The8
Erneut konnte ich 18.c4 verhindern, diesmal wegen 18…Lb4. Nach 18.Sg7 Tg8 19.Sh5 hätte ich wohl zu 19…Lb4 gegriffen. Er war aber noch längst nicht bereit die Idee c2-c4 aufzugeben. Objektiv gesehen hätte er sich jetzt mit 18.Df1 zufrieden geben sollen, wonach ich mit 18…Dg4 19.Sg3 h5 zum lang ersehnten Angriff komme.
18.Dd1? Lc5
Nun sass er in der Tinte. 19.c4 geht nun schon gar nicht, wegen 19…Se3, und er kann zwischen zwei Verlustvarianten aussuchen, nämlich 20.Txd7 Sxd1 21.Txd8 Kxd8 und die Mattdrohung auf e1 verliert ein paar Bauern, oder 20.fxe3 Txe3 21.Kh1 Tde8, wonach er auf Matt steht.
19.Sxf6 Sxf6 20.Txd7 Txd7
Alle Kiebitze sahen, dass Weiss nach 19.Sxf6 verlieren würde, aber auf meine Nachfrage konnte auch keiner einen besseren Zug vorschlagen, denn es gab keinen.
21.Df1 Sg4 22.Le3
Zäher war immerhin 22.g3 Lxf2+ 23.Kg2 Te1 24.Dc4 h5 25.Sd2. Nach 25…Le3 26.Sf3 Lxc1 verliert er entscheidend Material.
22…Lxe3 23.fxe3 Sxe3 24.De2 Td1+ 25.Kf2 Sd4 26.Dh5 Tf1+ 27.Kg3 Tg8+ 28.Kh3 Sxg2 0–1
Eine ganz und gar eigentümliche Partie. Ich habe sie gewonnen, weil es mir gelang, seine Hauptdrohung c2-c4 drei Züge hintereinander mit Gegendrohungen zu übertrumpfen.
Nun, das waren taktische Partien, werden Sie einwenden, wie sieht es denn positionell aus? Positionell gilt das Druckgebot und das Tauschverbot. Zur Erläuterung eine Eröffnung, die ich kürzlich mit Schwarz gespielt habe.
1.d4 e6
Ein französisches Angebot. Ein d4-Spieler lenkt kaum je mit 2.e4 ins Französisch ein. Das ist mir in vier oder fünf Jahren 1…e6 nur einmal passiert. Ein Vorteil dieses Zuges ist, dass ich nach 2.c4 durch 2…b6 die Eröffnung selber bestimme, es wird dann nämlich Damenindisch oder nach 3.e4 Miles, auch englische Verteidigung genannt, gespielt.
2.Sf3 c5
Jetzt käme nach 3.e4 ein Sizilianisch heraus. Normalerweise spiele ich auf 1.e4 1…e5, ich bin offensichtlich auch bereit, Sizilianisch oder Französisch zu spielen, ganz nach dem Gusto meines Gegners. Nach 3.c4 cxd4 4.Sxd4 entsteht eine Englische Partie, die ich je nach Lust und Laune klassisch mit d7-d5 oder als Igel mit d7-d6 interpretieren kann.
3.e3 d5
3.e3 ist eine häufige Antwort auf 2…c5. Weiss kann nun mit 4.c4 ins symmetrische Tarrasch oder in die Patentsysteme Colle (4.c3) oder Zukertort (4.b3) einlenken. Es ist zu vermuten, dass diese nicht unbedingt zum Standard-Repertoire eines d4-Spielers gehören, was sich in vielen meiner Partien bemerkbar gemacht hat.
4.dxc5
Dieser Zug ist nicht eigentlich schlecht, aber zweitklassig. Zunächst ist zu bemerken, dass er gegen das Tauschverbot verstösst. Mein Gegner gibt zu erkennen, dass er positionell spielt. Das bedeutet, dass er bestimmte Strukturen vermeidet und andere anstrebt. Er möchte ein angenommenes Damengambit mit vertauschten Farben haben und dabei den isolierten Bauern auf d4 vermeiden. Er konnte ja nicht wissen, dass ich wegen dem Tauschverbot möglichst niemals cxd4 gespielt hätte.
Positionsspiel bedeutet, dass man etwas bestimmtes anstrebt. Gerade dies tut er mit diesem Zug. Ich bin ein entschiedener Gegner dieser Auffassung. Man kann nur wählen. Nämlich irgend etwas. was in der Stellung bereits drin ist. Etwas, das schon da ist, brauche ich nicht anzustreben. Wie die Partie zeigt, strebt mein Gegner etwas an, was nicht zu haben ist.
4…Lxc5 5.a3 Sf6 6.c4 0-0 7.b4 Le7
Bei der Überlegung, welchen Rückzug ich wählen sollte, kam zum ersten Mal das Druckgebot ins Spiel. Der Läufer würde auf b6 nirgends hin drücken, auf e7 hingegen auf den Bb4. Dass dies keine nutzlose Überlegung war, zeigt der Partieverlauf.
Weiss möchte mit Lb2 und Ld3 seine Läufer auf meinen König richten. Wenn er sofort, 8.Lb2 spielt, muss er aber nach 8…dxc4 die Damen tauschen. 8.Sbd2 hätte dies vermieden.
8.Db3
Er weicht dem Damentausch radikal aus. Das ist eine weiterer positioneller Zug, mit dem er seine Wunschposition anstrebt. Nur ist Schach eben kein Wunschkonzert. Ich werde kaum abwarten, bis er seine Figuren in Schussposition gebracht hat. Es zahlt sich bereits aus, dass ich beschlossen hatte, auf b4 zu drücken:
8…a5
Nun hängt der Bb4. Er musste diesem Druck nachgeben und 9.b5 ziehen, aber er sah nach 9…Sbd7 schon meine Springer auf c5 und e4 auftauchen und beschloss, wiederum positionell motiviert, den Bauern auf b4 zu halten.
9.Lb2? ab4 10.axb4 Txa1 11.Lxa1 Db6
Ich habe gerade zweimal getauscht. Das Tauschverbot ist kein Dogma. Trotzdem, Täusche sind nur sinnvoll, wenn sie Angriffsobjekte im gegnerischen Lager schaffen. In diesem Fall dienten sie dazu, den Bb4 einmal mehr anzugreifen. Nun muss er vorrücken.
12.b5
Er musste mir somit das Feld c5 für meinen Springer abtreten. Ich verfiel nun selber in die positionelle Denkweise und machte automatisch den zweitbesten Zug 12…Sbd7, wonach die Stellung ausgeglichen und für das Thema unergiebig geworden ist.
Das Angriffsziel Bb4 ist verschwunden, statt nun einen automatischen Zug zu machen, hätte ich mich neu orientieren sollen. Er hat ein neues potenzielles Angriffsziel in der Stellung, den La1, welches ich mit den Abtäuschen ebenfalls provoziert hatte. Nach dem Damenschach auf a5 zieht er den einfach dazwischen. Dass ich hingegen dieses Damenschach drohen konnte, übersah ich.
Der korrekte Zug war 12…Se4, was 13…Da5+ droht.
13.Sbd2 Da5 14.Lb2 Lb4 schafft das nächste Angriffsziel, den Sd2. 15.Dc2 Ld7 und er verliert forciert den Bb5. 16.Le2 Sxd2 17.Sxd2 dxc4. Er darf nicht einmal zurücknehmen: 16.Lxc4 Tc8.
13.Da2 lässt 13…Lb4+ zu. 14.Sbd2 Sxd2 15.Sxd2 dxc4 16.Lxc4 Td8 17.Ld4 Dc7 mit der Drohung 19…e5, 18.f4 Sd7. Ich stehe fast schon auf Gewinn.
13.Da4 deckt beide Schachs ab. 13…Sd7 14.Sbd2 Sdc5 15.Da2 Td8 16.Le2 dxc4. Ich gewinne den Bb5. 17.Lxc4 Sxd2 18.Sxd2 Ld7.
Dass ich in einem angenommenen Damengambit mit Schwarz nach nur neun Zügen praktisch auf Gewinn stand, ist kein Zufall. Mein Gegner wollte unbedingt seine Lieblings-Struktur erreichen und strebte das mit ungefähren positionellen Zügen an. Gegen einen anderen Gegner seiner Stärke (2170) wäre er wahrscheinlich damit durchgekommen, weil dieser ähnlich abstrakt seine Figuren entwickelt hätte. Dass er gegen mich durchkam, lag an meiner Blödheit. Ich machte sehr schön meiner Methode entsprechend Druck, aber als es darum ging, die härteste Drohung zu finden, fing ich auf einmal an positionell zu spielen.
Wenn Sie nun glauben, dass Supergrossmeister jede taktische Chance sehen, liegen Sie falsch. Ich demonstriere dies an der ersten Partie des Finals im Weltcups 2015. Der Weltcup-Final hat im Schach etwa die Bedeutung eines Wimbledon-Finals im Tennis.
Peter Swidler – Sergey Karjakin
FIDE World Chess Cup 2015 Baku (7.1), 01.10.2015
1.Sf3 Sf6 2.g3 d5 3.Lg2 e6 4.0–0 Le7 5.d3 0–0 6.Sbd2 c5 7.e4 Sc6 8.Te1 b5 9.exd5 Sxd5
Am folgenden Zug überlegte Peter Swidler zehn Minuten und dreissig Sekunden lang. Nach der Partie erklärte er im Livestream, dass nun 10.a4 b4 11.Sc4 das normale wäre, für beide eine sehr solide Position ergäbe, aber keine besonderen Ansprüche stellte. Sein Interviewer Jewgeni Miroschnitschenko pflichtete ihm bei, dass das der Zug wäre, den jeder 1800-er machen würde.
Swidler suchte in diesen zehn Minuten etwas schärferes und spielte den Textzug, obwohl er Bedenken wegen 10.Se4 h6 hatte, welches die Idee 11.Lg5 aus dem Spiel nimmt. Das trifft zu.
Dass er 10.c4 überhaupt nicht beachtete, ging eindeutig aus seinen Kommentaren hervor. Er wird möglicherweise nicht einmal in der Analyse darauf kommen, weil der Computer doch einige Sekunden braucht, bis er den Zug als eindeutig stärksten identifiziert.
Schwarz möchte lieber nicht auf c4 tauschen, womit er die weisse Bauernstellung reparieren würde, 10…Sc7, nun fängt Weiss bereits an, mit 11.Sb3 auf c5 zu drücken. Dazu wäre 11.Se4 weniger geeignet, denn von dort kann der Springer vertrieben werden 11…f5 12.Sc3 Tb8. 11…bxc4 12.dxc4 möchte Schwarz nicht spielen, wegen dem Druck auf der langen Diagonale und dem auf den Bc5. Der einzige Zug ist noch 11…Tb8, 12.Le3 und nun verliert Schwarz einen Bauern, es sei denn er spielt 12…bxc4 13.dxc4 Sa6 wonach Weiss offensichtlich im Vorteil ist.
Nachtrag 2020: Times, they are a-changing: 10.c4 bxc4 11.dxc4 Sdb4 12.Se5 Lb7 13.a3 Sxe5 14.Lxb7 Sbd3 15.Lxa8 Sxe1 16.Dxe1 Sd3 17.De2 Sxc1 18.Txc1 Dxa8 ist laut Stockfish 11 komplett ausgeglichen. Die Schachprogramme sind in den letzten 5 Jahren etwa 200-300 Elo stärker geworden.
10…dxc4 11.dxc4 Sb6 12.b3 Tb8 13.Lb2. Auf 13…f6 hat Weiss das starke 14.Sg5.
Dass solch starke Spieler wie Swidler in 10 Minuten Überlegung einen solch starken Zug nicht einmal beachten, zeigt, dass es auch für sie positionell begründete unsichtbare Züge gibt.
Nachtrag 2020: Immerhin habe ich nicht behauptet, dass 10.c4 der stärkste Zug war. Trotzdem müsste man diesen Zug als erstes betrachten, einfach weil es der einzige Angriffszug in der Stellung ist.
10.Se4 Lb7 11.c3 a6 12.a4 b4 13.Lg5 f6
Diese kurze Zugfolge dauerte in Wirklichkeit anderthalb Stunden. Swidler erwog hier 14.Lc1 als „funny idea“ aber hielt die Abwicklung 14…e5 15.d4 cxd4 16.cxd4 f5 17.Sc5 Lxc5 18.dxc5 e4 für vorteilhaft für Schwarz. Ihm entging der starke Zug 19.Sg3 mit der Idee 19…Dd7 20.f3, was das schwarze Zentrum sprengt (+1).
14.Ld2 e5 15.Tc1 Tf7?
Wahrend der 10 Minuten, die Karjakin für seinen letzten Zug brauchte, fürchtete Swidler 15…Tc8 am meisten. Ihm entging der paradoxe Zug 16.Sh4 mit der Idee 16…f5 17.Sg5. Nach 16…g6 17.Lh6 Tf7 18.Sf3 ist es immer noch völlig offen.
Für seinen nächsten Zug brauchte Swidler nur 4 Minuten und meinte es wäre klar, dass „if I can play d4, I should play d4“. Tatsächlich, es gibt nichts, das man Schwarz noch raten kann.
16.d4 bxc3 17.bxc3 cxd4 18.cxd4 Sxd4 19.Sxd4 exd4 20.Db3 Tb8 21.Tb1
Karjakin überlegte 16 Minuten. Er wird Material verlieren.
21…Dd7 22.Tec1 De6?
Das ist der Verlustzug. Er hätte das von Swidler vorgeschlagene 22…h6 spielen sollen. 23.Sc5 Lxc5 23.Txc5 Sc3 24.Lxc3 dxc3 25.Txc3 Kh7. Das müsste „irgendwie“ für Weiss gewinnen…
23.Sc5 Lxc5 24.Txc5 Td8 25.La5 Td6 26.Dc4 Sc3 27.Txb7 De1+ 28.Lf1 Se2+ 29.Dxe2 1–0
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