Vom Denken im Schach
Ich war einige Jahre lang Jugendtrainer in Luzern. Die Jugendlichen kamen normalerweise aus Kursen, die ein erfahrener Spieler durchführte, zu mir. Was sie denn dort so gelernt hätten? „Entwicklung“, „Zentrum“, „Doppelbauern“, „Vorposten“, zählten sie auf. „Doppelbauern?“ fragte ich nach. Ja, diese wären nicht gut, denn sie würden verloren gehen. „Aber du stellst doch noch ganze Figuren ein, kommt es da auf einen Bauern mehr oder weniger an?“. Allgemeine Verlegenheit. Die Schüler konnten ein Damengambit zehn oder zwölf Züge auswendig, aber wenn sie dann alle Figuren entwickelt und das Zentrum besetzt hatten, fingen sie an, hin und her zu ziehen, weil sie ganz einfach nicht wussten, worum es in einer Schachpartie geht.
„Vergesst die Doppelbauern“, belehrte ich sie. „Im Schach geht es um drei Sachen:
1. Drohung ansehen.
2. Alles angreifen.
3. Nichts einstellen.“
Meine ehemaligen Schüler können diese Regeln im Schlaf aufsagen. Damals hielt ich sie für überspitzt, aber heute bin ich mir sicher, dass sie den Kern der Sache treffen. Ich selber bin mit Nimzowitschs Büchern aufgewachsen. Herr Nimzowitsch war ein nervöser Mensch und hatte allerhand Befürchtungen. Selbst die legendäre Bogoljubowsche Zigarre stellte für ihn eine Bedrohung dar: „Er droht zu rauchen, und die Drohung ist oft stärker als ihre Ausführung“. Er strebte vor allem nach seiner eigenen Sicherheit und fand, dass Blockade und Überdeckung ihm diese einigermassen gewährleisteten, kurzum das, was man heutzutage Prophylaxe nennt. Ausserdem, behauptete er, dass blockierende und überdeckende Figuren gut stünden, und führte seine Erfolge auf sein „System“ zurück. Nimzowitsch hatte einen grossen Einfluss auf mein Spiel. Ich war in meinen Partien bemüht, meine Figuren gut aufzustellen und sah taktische Tricks nur als Hilfsmittel, die Stellung zu verbessern. Kurzum, ich war ein Positionsspieler. Wenn ich sah, dass ein Angriff abgewehrt werden konnte oder ein Opfer nicht direkt gewann, unterliess ich Angriff und Opfer und wandte mich allgemeinen Erwägungen zu.
Ich habe meine Ansicht radikal geändert und denke jetzt, dass Strategie ein Hilfsmittel für Taktik ist, und nicht umgekehrt.
Anlässlich des AVRO-Turniers 1939 erarbeitete der Psychologe Adriaan de Groot eine Studie, in der er GM mit schwächeren Spielern verglich. Es kam unter anderem heraus, dass schwächere Spieler gesunde Bauernstrukturen überbewerten und sich im Gegensatz zum GM nur oberflächlich mit den gegnerischen Drohungen befassen. Ausserdem fassen sie einen konkreten Zug ins Auge, prüfen ihn, und spielen ihn, wenn er der Prüfung standhält. GM vergleichen Kandidatenzüge und begründen, weshalb der gewählte Zug der korrekte ist.
Dass Patzer „gesunde Bauernstrukturen überbewerten“, lässt vermuten, dass stärkere Spieler dies nicht tun, was wohl wiederum bedeutet, dass sie in ihren Überlegungen statische Merkmale weniger berücksichtigen als dynamische, worauf auch die Beobachtung hinweist, dass sie sich stärker mit den gegnerischen Drohungen befassen als Patzer.
Die dritte Beobachtung ist für mich die interessanteste. Patzer glauben viel eher als Grossmeister zu wissen, was gerade zu tun ist, und ordnen ihre Züge irgendwelchen positionellen oder strategischen Zielen unter. Dem gegenüber prüft der GM, was gerade in der Stellung drin ist, versucht sich über seine Optionen Klarheit zu verschaffen und wählt eine dieser Optionen. Kurzum, der Patzer spielt abstrakt, der GM konkret. Ich bin überzeugt, dass ich im Schach nur Fortschritte machen kann, wenn ich mich daran gewöhne, mich von Zug zu Zug um Drohungen und Gegendrohungen zu kümmern, ohne irgendwelche strategischen Ziele zu verfolgen.
Der durchschnittliche Schachspieler hat ungefähr 1600 Elo, was bedeutet, dass die Hälfte aller Spieler weniger Elo hat. Über 1800 kommen 20%, über 2000 10% und über 2200 noch 3% der Spieler. Über 2400 sind es noch ein paar Promille, aber richtig gutes Schach wird erst ab 2600 gespielt. Überlassen wird doch das Planen denjenigen, die Varianten auch korrekt berechnen können. Alle anderen müssen sich von Zug zu Zug neu orientieren, und ihre Züge aufs Geratewohl machen. Dabei erhöht meine Methode die Trefferquote für korrekte Züge erheblich.
Jeder will sein Schach verbessern, das gelingt die ersten 5 oder 6 Jahre sehr wohl, aber dann stagniert man. Ich habe seit 40 Jahren immer ungefähr die gleiche Spielstärke, egal was ich unternommen habe.
Ich bin einer der belesensten Schachspieler überhaupt, aber elomässig bringt das nichts. Vor ein paar Jahren begann meine neue Denkmethode, Keine Pläne!, zu reifen. Das hatte drei Wirkungen: Erstens, ich spiele schneller. Zweitens, meine Partien sind viel spannender geworden. Drittens, ich habe ein paar Elo verloren. Das „Drittens“ mag für Sie enttäuschend sein. Ich versichere Ihnen jedoch, dass weder Nimzowitsch noch Kotow, noch Aagard sie stärker machen werden. Mir selber hat „Zweitens“ viel Spass und Motivation gebracht, und „Erstens“ verplempere ich keine Bedenkzeit mit idiotischen Überlegungen mehr.
Die Geburtsstunde von Keine Pläne! war im Sommer 2000, auf der Trottoir-Terrasse des Ristorante Gennaro in Luzern, anlässlich einer Diskussion der folgenden Partie:
Wüest Andrin (2216) – Maier Christian (2363)
Schweizer Mannschaftsmeisterschaft, 2000
1.d4 Sf6 2.Sc3 d5 3.Lg5 Sbd7 4.Sf3 c6 5.Dd3 g6 6.0–0–0 Lg7 7.h3 0–0 8.g4 b5 9.Se5 Sxe5 10.dxe5 b4 11.exf6 exf6 12.Ld2 bxc3 13.Lxc3 Db6 14.e3 Td8 15.Lg2 Tb8 16.Dd4 c5 17.Da4 Le6 18.Td2 d4 19.exd4 Lh6 20.d5 Lxd2+ 21.Kxd2 Lxd5 22.Lxd5 Txd5+ 23.Kc1 Tbd8 24.Df4 Dd6 25.Df3 f5 26.Te1 f6 27.La5 Tc8 28.Lc3 Tf8 29.b3 fxg4 30.hxg4 Tg5 31.De4 Dd5 32.Df4 Df7 33.Kb2 h5 34.f3 hxg4 35.fxg4 Td5 36.Th1 g5 37.Df3 Td6 38.Th6 Dg7 39.Dh3 Tf7 40.Dh5 Kf8 41.Th8+ Ke7 42.Dh1 Td7 43.De4+ Kd6 44.Tc8 Tc7 45.Te8 Tfe7 46.Dd3+ Ke6 47.Dc4+ Kd7 48.Tb8 Df7 49.Dd3+ Ke6 50.La5 Tcd7 51.Da6+ Kd5 52.Tc8 Ke4 53.Txc5 Kf3 54.Lc3 De6 55.Df1+ Kxg4 56.Lxf6 Td5 57.Tc4+ Kh5 58.Lxe7 De5+ 59.Kb1 1–0
Beileibe keine gute Partie. Der Plan, die Türme auf der d-Linie zu verdoppeln, kostete im 18. Zug eine Qualität. Danach verteidigte sich Andrin zähe mit der ihm eigenen erfinderischen Genauigkeit. Er kam nach einigen ungeduldigen und sorglosen Zügen Christians im 35. Zug sogar in Vorteil. Dann machte er den Sack etwas umständlich, aber sicher zu.
Unser Spitzenspieler, Robert Hübner, kritisierte ihn hart. Er verwies auf seine trickreiche technische Spitzfindigkeit und riet ihm, einfache Stellungen anzustreben, wo er diese Stärke besonders gut ausspielen könne. „Keine Pläne!“ betonte er, unter grossem Gelächter der Mannschafts-Kollegen.
Ich war wohl der einzige, der Keine Pläne! nicht als Witz verstand. Was daraus wurde, versuche ich auf diesen Seiten darzulegen.
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