Literatur von und über Capablanca finden Sie hier.
Der Techniker
1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.d4 Lg4 4.dxe5 Lxf3 5.Dxf3 dxe5 6.Lc4 Df6 7.Db3 b6 8.Sc3 c6
Capablanca demonstriert diese Stellung in seinen „Grundzügen der Schachstrategie“, um zu erläutern, weshalb „wenigstens ein Springer entwickelt werden sollte, bevor die Läufer herausgebracht werden“.
Er kommentiert wie folgt: „Schwarz hat nun ausser seiner Dame keine Figur draussen. Weiss hat schon einen Springer und Läufer entwickelt, und Aussicht, schnell in Vorteil zu kommen, wenn er Sd5 durchsetzt“.
Wie er allerdings dieses Sd5 durchsetzen will, verrät er uns nicht, sondern überlässt es dem Leser, „die vielen Varianten, die sich aus dieser Stellung ergeben, selber auszuarbeiten“.
Ich habe die Stellung in den Datenbanken gesucht, und rund ein Dutzend Partien gefunden. Die Hälfte der Weissspieler hatten keine Elo, die andere Hälfte zwischen 2000 und 2230. Die Partie des stärksten Weissspielers verlief wie folgt: 9.Le3 Sd7 10.a4 Lc5 11.0-0 De7 12.Tae1 Lxe3 13.Txe3 Sgf6, und Weiss stand geringfügig schlechter, in Mossakowski – Woestmann, Bad Zwesten 1999.
Alle Weissspieler spielten im 9. Zug 0-0 oder Le3.
Ich habe dieses auch schon im Blitz vorgesetzt bekommen. Ich probierte
9.Sb5 cxb5 10.Lxb5+ Sc6 11.Lg5 Dd6 12.Td1 Dc7 13.Da4 Sge7 14.Lxe7 Kxe7 15.Lxc6 Td8 16.0–0
Schwarz kann aufgeben. Da ich meine Blitzpartien zu analysieren pflege, fand ich heraus, dass auch
9.Sd5 gewinnt.
Ich kann mich erinnern, dass ich das wegen 9…Dd6 verworfen hatte, aber dann gewinnt 10.Sxb6 axb6 11.Lxf7+ Kd8 12.Lxg8. Das gleiche Motiv entscheidet auch nach 9…Dd8. Diese Kombination ist uralt. Sie wurde schon von Gioacchino Greco 1620 gespielt.
Gioacchino Greco – NN, 1620
1.e4 e5 2.Sf3 d6 3.Lc4 Lg4 4.h3 Lxf3 5.Dxf3 Df6 6.Db3 b6 7.Sc3 c6 8.Sd5 Dd8 9.Sxb6 Dxb6 10.Lxf7+ Kd7 11.Lxg8 d5 12.exd5 Dxb3 13.dxc6+ Sxc6 14.Lxb3 1–0
Somit bleibt noch 9…cxd5 10.Lb5+ Sc6 11.Lg5 Dg6 12.exd5, und schon wieder kann Schwarz aufgeben.
Ganz nebenbei, es gewinnt auch 9.Lg5. Ich überlasse es Ihnen, „die vielen Varianten, die sich aus dieser Stellung ergeben, selber auszuarbeiten.“
Bleibt die Nebenfrage, weshalb das ein Dutzend Spieler in Turnierpartien nicht gesehen haben, und die Hauptfrage, weshalb Capablanca, der doch sämtliche petites combinaisons mit dem linken Auge durchschaute, wenn auch bei oberflächlicher Betrachtung, drei mögliche Gewinnfortsetzungen nicht sah, sondern im Gegenteil „Sd5 durchsetzen“ wollte, was mit technischen Mitteln nicht zu erreichen, aber überhaupt nicht nötig ist, denn es ist sofort spielbar, und gewinnt in wenigen Zügen.
Wenn Sie jetzt einwenden, dass die „Grundzüge“ ein oberflächlich geschriebenes Anfängerbuch sind, dann sollten Sie mir noch die Frage beantworten, ob Aljechin oder Tal das bei oberflächlicher Betrachtung auch übersehen hätten. Oder warum ein Patzer wie ich keine 10 Sekunden gebraucht hat, um einen der drei Gewinnzüge zu finden.
Die Antwort liegt im Denkansatz Capablancas. Er pflegte eine statisch positionelle und technische Betrachtungsweise. Er dachte, dass die überlegene Entwicklung von Weiss mit ziemlicher Sicherheit auf die eine oder andere Art zum Vorteil führen würde, und somit war die Stellung für ihn erledigt. Ein Aljechin hingegen dachte viel konkreter und hätte bestimmt die eine oder andere Gewinnvariante angegeben.
Interessant sind Capablancas Ausführungen zur Drohung: „Eine Drohung bedeutet stets einen Vorteil. Aber man soll die Drohung nur wirklich ausführen, wenn dabei etwas zu holen ist“. Aha. Wenn nichts droht, droht nichts, logisch. Was zu holen sein muss, erklärt er sofort. „Die schwebende Drohung zwingt den Gegner, sich gegen ihre Ausführung zu sichern und dafür Material in Bereitschaft zu halten. Dadurch wird er leicht von dem Angriff an einer anderen Stelle abgelenkt oder ist auch oft gar nicht imstande einem solchen zu begegnen“.
Seine Ausführungen über die Initiative charakterisieren Capablancas Denkweise treffend: „Beim Spielbeginn sind beide Stellungen gleich und enthalten gleich viel Material. Weiss ist jedoch am Zuge, das bedeutet hier die Initiative. Dieser Vorteil muss nun so lange wie möglich festgehalten und nur dann aufgegeben werden, wenn statt dessen ein anderer Vorteil, materieller oder positioneller Natur dafür eingetauscht werden kann. Weiss entwickelt seine Figuren so schnell wie möglich, versucht aber dabei, die gegnerische Entwicklung zu hemmen, indem er soweit wie möglich einen Druck ausübt. Vor allem versucht man, das Zentrum zu beherrschen, und gelingt dies nicht, irgend einen positionellen Vorteil zu erlangen, durch den der Gegner beunruhigt wird. Gegen Materialgewinn gibt man die Initiative nur dann aus der Hand, wenn es unter so günstigen Umständen geschieht, dass man sicher ist, dem Angriff des Gegners standhalten zu können, mit dem Ziel, infolge der materiellen Überlegenheit später die Initiative wieder an sich zu reissen, die allein schliesslich zum Siege führt.“
Das ist das Credo Capablancas. Ziemlich schwammig, nicht? Zu seiner Zeit spielte die Mehrheit der Spieler nach dieser Sichtweise. Capablanca selber spielte kaum je auf Königsangriff, sondern versuchte, wie er es selber sagt, Druck auszuüben, Material zu gewinnen und dann den Gegenangriff abzuwehren. In seinen Partien ist öfters zu beobachten, dass er die Initiative, damit meine ich nicht jene des Anzugsvorteils, relativ schnell zugunsten statischer Vorteile abgibt.
Capablanca entschädigt uns für solche schachlichen und literarischen Gräuel, indem er in den „Grundzügen“ einige Partiefragmente, und 15 eigene Partien kommentiert. Meiner Ansicht nach sind Partiensammlungen mit selber kommentierten Partien die besten Lehrbücher.
Capablanca hatte hervorragende technische und rechnerische Fähigkeiten. Er liebte es, alles unter Kontrolle zu haben und berechnen zu können. Wenn eine Stellung „unkontrollierbar“ oder „unberechenbar“ wurde, fühlte er sich überhaupt nicht wohl, auch wenn er haushoch auf Gewinn stand, was ich mit der folgenden Partie zeigen möchte.
Jose Raúl Capablanca,- Efim Bogoljubow
Moskau, 1925
Diese Partie ist vielfach kommentiert worden. Ich beziehe mich in meinen Analysen auf Harry Golombek „J.R. Capablanca, 75 seiner schönsten Partien, Walter de Gruyter 1970, welches ein übersetzter und ergänzter Auszug aus dem Original „Capablanca’s Hundred Best Games of Chess“, Hardcourt, Brace & Co., New York 1947 ist. Das andere repräsentative Werk über Capablanca ist von Euwe / Prins, „Capablanca, Das Schachphänomen, Schach-Archiv, Hamburg 1979. Prins‘ Kommentare sind in Golombeks Neuausgabe eingearbeitet.
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Sf3 dxc4 4.e4 c5 5.Lxc4 cxd4 6.Sxd4 Sf6 7.Sc3 Lc5 8.Le3 Sbd7 9.Lxe6 fxe6 10.Sxe6
„Capablanca antwortete unverzüglich auf den letzten schwarzen Zug, ein Zeichen, dass er über das Läuferopfer bereits eine Zeitlang nachgedacht hatte“ (Golombek zum 9. Zug)
Ich denke, dass das Opfer viel eher einer häuslichen Analyse Capablancas entsprang, da Bogoljubow diese verdächtige Variante in einer früheren Runde gespielt hatte . Es entspricht sehr seinem technischen Spielverständnis, da ihm das plausible 10…Db6 einen soliden Vorteil gibt: 11.Sxc5 Sxc5 12.Tc1
Diesen Zug hat Prins vorgeschlagen. Golombek wollte im Original noch rochieren, was auch gut, aber weniger zwingend als der Textzug ist. Capablanca würde in jeder Variante die Figur mit Zinsen zurück gewinnen. Man sehe:
12…0-0 13.Sd5
13…Dxb2 14.Lxc5 Sxe4 15.Tc2 De5 16.f4. Weiss gewinnt die Qualität, etwas kompliziert, aber hieb- und stichfest.
13…Sxd5 Dxd5+ Le6 15.Dxc5 Dxb2 16.0-0 Dxa2 17.Ld4 mit gefährlichem Angriff (Prins).
12…Lg4 wurde von keinem Kommentator vorgeschlagen. Einmal mehr wird die härteste Drohung übersehen. 13.f3 Td8 14.De2 Le6. Weiss muss sich schon anstrengen, um einen Vorteil nachzuweisen. Houdini findet 15.0-0 Tc8 16.e5 Sfd7 17.Se4 0-0 18.Sxc5 Txc5 19.Txc5 Sxc5 20.Df2 Tc8 21.Tc1 Dd8 22.Tx5 Txc5 23.Lxc5 Dd1+ 24.Df1 Dxf1 25.Kxf1 b6 26.Ld6 Lxa2. Schwarz hat gute Remisaussichten.
Ich vermute, dass Capablanca kaum das kombinatorische 12.Tc1, sondern viel eher das prosaische 12.0-0 gewählt hätte. Das droht schlicht 13.Sa4. Der einzige Zug ist 12…Dc6.
Golombek erwähnt jetzt im Original 13.Tc1 Scxe4 14.Sxe4 Dxe4 15.Lc5 Dd5 16.Te1+ Kf7 17.Te7 Kg6 18.Ld4 und lässt dann Schwarz den Fehler
18…Le6 begehen, der wegen 19.Tc5 sofort verliert.
Das bessere 18…Td8 19.Dd3+ überlässt Weiss immer noch starken Angriff.
13.e5 Sc4 14.Lxc5 Dxc5 15.Se4 Dxe5 16.Sd6 Kf8 17.Df3+ ist ebenfalls möglich. Nach 17…Df6 18.Sxc8 Dxf3 19.gxf3 Sxh2 20.Kxh2 Txc8 21.Tad1 steht Weiss besser.
Ich denke, dass Capablanca etwas derartiges angestrebt hätte: Eine taktisch nicht allzu anspruchsvolle Fortsetzung mit materiellem Gleichstand und Endspielvorteil. Bogoljubow tut ihm den Gefallen der Einfachheit und Klarheit nicht und wählt die schwächere, aber komplizierte Alternative.
10…Da5 11.0–0
Offenbar das Ergebnis der Vorbereitung. Er verzichtet zu Recht auf 11.Sxg7+ Kf7 12.Sf5 Se5. Golombek gibt hier 13.0-0 an, wonach Schwarz mit 13…Lxf5 in Vorteil käme, aber mit 13.Db3+ Le6 14.Sh6+ Ke7 15.Dxb7+ kann Weiss die Partie halten.
11.0-0 ist zweifellos der stärkste Zug. Weiss steht auf Gewinn, aber im Gegensatz zur Variante 10…Db6 ist das hier keine technische, sondern eine Angriffsstellung, und der Grund, weshalb ich diese Partie kommentiere. Es ist höchst interessant, was Capablanca und andere über diese Stellung geschrieben haben.
Für das erste bemerkt Golombek, dass 11…Kf7 wegen 12..Db3 noch viel schneller verloren hätte. Das trifft nicht zu, denn S kann mit 14…Lxe3 15.fxe3 in die Partie einlenken.
Der Haken an 11..Kf7 ist, dass W nun zusätzlich 12.Sxc5 Sxc5 13.e5 Td8 14.Df3 mit einem gesunden Mehrbauern zur Verfügung hat. Dass Bogoljubow angesichts von Capablancas Technik keine Lust darauf hatte, ist verständlich.
11…Lxe3 12.fxe3 Kf7
Die Stärke von 13.Db3 war so offensichtlich, dass niemand diesen Zug kommentiert hat.
Statt dessen hätte 13.Dg4 auf der Stelle gewonnen. Das droht den Th8 abzuholen. Das Problem ist rein psychologisch. Weiss hat eine Figur weniger und glaubt, etwas vorweisen zu müssen. Angesichts der Masse von möglichen Verteidigungsversuchen kann man einfach nicht alle Varianten berechnen. Kasparow hätte sich in dieser Stellung in seinem Element gefühlt. Ihm hätte die Erkenntnis, dass er mit sämtlichen Figuren plus dem Be4 angreift und Schwarz dagegen nur drei Verteidiger hat, völlig gereicht.
13…Tg8 14.Sd5 (droht Matt durch 15.Sg5+ Kf8 16.De6). Hier z.B. 14…Sc5. Weiss gewinnt beliebig, etwa mittels 15.Txf6+ gxf6 16.Dh4
13…g6 14.Sd5 Da6 15.Sec7 mit Materialgewinn.
13…Te8 14.Dxg7+ Kxe6 15.Sd5 Sxd5 16.exd5+Kd6 17.Dh6+ Kc7 18.Tac1+ Kd8 19.Dh4 Te7 20.d6 und gewinnt.
Gegen 13.Db3 ist überhaupt nichts einzuwenden, ausser dass die entstehende Gewinnstellung den amtierenden Weltmeister überfordert hat. Ein Aljechin hätte die Geschichte in ein paar Zügen erledigt, aber Capablanca fühlte sich in derartigen Stellungen nicht wohl.
13.Db3 Kg6 14.Tf5 Db6 15.Sf4+ Kh6
Capablanca gab nach der Partie an, dass
16.Df7 gewonnen hätte. Es droht ein Matt auf h5. Er analysiert 16…g6 17.g4 Dxe3+ 18.Kg2
18…gxf5 19.g5+ Kxg5 20.Dg7+ Kxf4 21.Tf1+ Ke5 22.De7+ Kd4 23.Td1+ Kc4 24.De6+ Kc5 25.b4+ Kxb4 26.Db3+ Kc5 27.Db5#
18…Sxg4 19.Th5+ gxh5 20.Dxh5 Kg7 21.Dxg4+ Kf8 22.Se6+ Ke8 23.Dh5+ Ke7 24.Sd5+ mit Damengewinn.
Alles perfekt analysiert. Nur, warum in aller Welt hat er es nicht gespielt? Er erwähnt 16…Dxe3+ 17.Kh1 g6 18.Se6 nicht. Vielleicht liegt da der Hund begraben. Er kommentiert so: „In der Partie spielte Weiss anders. Er glaubte, gewinnen zu können, ohne all diese Komplikationen auf sich zu nehmen, indem er 16.g4 zog, was sich als schwerer Irrtum erwies.“ Kurzum, es war ihm zu kompliziert. Das „auf sich zu nehmen“ ist von mir hervorgehoben, es spricht Bände. Wie es aussieht, hatte er den Gegenzug 16…g5 schlicht übersehen. Gut, wenn 16…g5 nicht geht, dann ist es wirklich einfach. Er hat bestimmt 99% seines Nachdenkens auf 16.Df7 verwendet, um dann plötzlich zu entdecken, dass „16.g4 simpel gewinnt“. Das Kotow-Syndrom. Siehe Alexander Kotow. Die Stellung nach 16.Df7 war ihm wohl zu „unberechenbar“, und er fürchtete „Löcher“. Wie Sie sehen, war ihm alles, was er nicht exakt berechnen konnte, nicht geheuer.
16.g4? g5
Nun steckte er also im Schlamassel, und machte einen Zug, den einige Kommentatoren mit einem Rufzeichen versehen haben. Golombek merkt an, dass Damentausch nun die beste Chance sei, dass 17.Df7 wegen 17…Tf8 verfehlt wäre, und auch 17.h4 wegen 17…Dxe3 18.Kh1 gxf4 verlöre.
Sehen wir uns doch 17.Df7 Tf8 18.De7 an. Offensichtlich der einzige Zug. S kann die Züge mit 18…Te8 19.Df7 Tf8 wiederholen, aber da er angeblich auf Gewinn steht, probiert er 18…Dxe3+ 19.Kg2. Nun droht Schreckliches, z.B. 20.Se6 nebst Matt auf g7. 19…gxf4 ist das Einzige, was seinerseits 20…f3+ mit Vernichtung droht. Das muss mit 20.Tf1 verhindert werden. Und, siehe da, er droht mit 21.T1xf4 zu gewinnen. Die Gegendrohung gegen g4, nämlich 20…Tg8 ist eine ausreichende Antwort. W kann nun zweimal auf f6 schlagen, und dann auf h4 und e7 ein ewiges Schach geben, aber er probiert noch 21.T1xf4, wonach ihn S wohl am besten mit 21…Txg4+ 22.Txg4 Sxg4 23.Dh4+ Kg7 24.De7+ zum ewigen Schach zwingt. Also remis. Capablanca war in diesem Moment wohl nicht in der Lage, einen vernünftigen Gedanken zu fassen, fürchtete in dieser Variante allerhand Ungemach und so entschied er sich für eine mühselige Verteidigung mit allerbesten Verlustaussichten, aber wenigstens waren die grössten Komplikationen aus der Partie…
17.Dxb6? axb6 18.Td1
Bogoljubow hatte mit seiner Taktik, das Spiel unter allen Umständen zu verkomplizieren, Recht gehabt. Aus einer kompletten Verluststellung war innert zwei Zügen eine gewonnene Partie geworden, da begann auch er zu zagen, und nahm lieber eine vermeintlich einfachere Variante, die ihm einen sicheren Vorteil versprach. Es wird für ewig ein Rätsel bleiben, weshalb er den Springer nicht schlug.
18…gxf4 19.g5+ Kg6, und es ist nicht ersichtlich, was er gefürchtet hat. 20.Td6 fxe3 21.gxf6 Kf7 22.e5 Te8 und die Freibauern sind futsch.
18…Tg8? 19.Sfd5 Sxg4?!
Er hätte wenigstens 19…Sxd5 spielen sollen, wonach er in allen Varianten besser steht. Jetzt zeigt Capablanca sein ganzes technisches Geschick und Bogoljubow läuft ihm ins Messer.
20.Se7 Tg7 21.Td6+ Kh5?
21…Tg6 hätte die Partie gehalten:
22.Sxg6 hxg6 23.Tf7 b5 24.a3 Sxe3 25.Sd5 Sxd5 26.exd5 b4 27.axb4 Ta4=
22.Txg6+ hxg6 23.Tf7 Sdf6 24.Tf8 b5 25.Txc8 Txc8 26.Sxc8 b4 27.Sd5 Sxe4+=
Wer konnte schon ahnen, dass der Textzug studienartig verliert?
22.Tf3 Sgf6 23.Th3+ Kg4 24.Tg3+ Kh5 25.Sf5 Tg6
Nach der Partie gab Capablanca an, dass 26.Th3+ Kg4 27.Kg2 gewonnen hätte.
Die offensichtliche Drohung ist 28.Sh6+ mit Gewinn. Es gibt aber schöneres.
28.Txh7 Sxh7 29.Txg6 nebst Matt durch 30.h3+ und 31.Th6#
28.Sd1 Sxe4 29.Td5 nebst Matt durch 30.Th4+ gxh4 31.Sh6+ Txh6 32.h3#
Capablanca selber gibt
27…Sxe4 28.Td5 Sxc3 29.Th4+ gxh4 30.Sh6+ Txh6 31.h3# an.
Sein folgender Zug geschah „zwecks Zeitgewinn“. Zeitgewinn statt Partiegewinn?
26.Se7?
Bogoljubow erklärt in seinem Turnierbuch, dass 26…Sc5 remis gemacht hätte, und belegt das mit 27.Sxg6 Sfxe4 28.Td8 Kxg6 29.Tg2 Se6 30.Txc8.
29…Se6 ist ungenau. Mit 29…Sxc3 30.bxc3 Se4 kann er sogar noch auf Gewinn spielen.
Die korrekte Antwort auf 26…Sc5 ist 27.Tf3 Sfxe4 28.Txg6 hxg6 29.Tf8 g4 30.Txc8 mit toter Remisstellung. Bogoljubow wählt den zweitbesten Zug, wonach Weiss erneut in Vorteil kommt, und stellt mit seinem übernächsten Zug eine Figur ein.
26…g4? 27.Sxg6 Kxg6? 28.Txg4+ Kf7 29.Tf4 Kg7 30.e5 Se8 31.Te6 Sc7 32.Te7+ 1–0
Capablanca hatte damals den Ruf, eine „Schachmaschine“ zu sein, was bedeutet, dass er keinerlei schöpferische Ansprüche hatte, sondern ausschliesslich durch seine überlegene Technik zu gewinnen versuchte. Seine Verehrer zitierten diese Partie als Widerlegung dieser These, hatte sich ihr Held doch mit einem Positionsopfer in wildeste Verwicklungen gestürzt.
Ich sehe das anders: Capablanca hatte die Variante analysiert, und gefunden, dass er nach 10…Db6 in einer technischen Stellung einigen Vorteil hätte. Auf Bogoljubows 10…Da5 hatte er 12.fxe3 gefunden, was er zurecht als gewonnen einschätzte. Wie die Partie zeigt, fühlte er sich in taktischen Angriffen überhaupt nicht sicher, verdarb zwei Gewinnstellungen, und machte in ausgeglichener Stellung einen Verlustzug.
Capablanca war den meisten seiner Gegner technisch überlegen, in dynamischen Stellungen gab es ein paar wenige, die stärker waren als er, allen voran Lasker und Aljechin.
Ich füge ein weiteres Beispiel an, das zeigen soll, wie sehr Capablanca vor Komplikationen zurückschreckte und den technischen Weg suchte. Es ist eine bekannte Partie, die er ebenfalls in Moskau gegen den legendären Alexander Fjodorowitsch Iljin-Schenewski verlor. Iljin war der Bruder des russischen Revolutionärs Raskolnikow, der 1939 von Stalins Schergen in Nizza ermordet wurde. Er studierte 1914 im Exil in Genf und gab sich dort den Zunamen Schenewski oder Genewski, „der Genfer“. Die Einen sagen, um sich von Lenin abzugrenzen, der gelegentlich unter dem Pseudonym Iljin publizierte, die Anderen, weil er stolz darauf war, in Genf sein erstes Turnier gewonnen zu haben. Iljin wurde durch sein Turniertagebuch von Moskau 1925 berühmt, in welchem er seine Gedanken und Erlebnisse im Spiel gegen die Grössen seiner Zeit festhielt.
Die Partie war ebenfalls Gegenstand von Kontroversen rund um Capablanca. Prins schreibt, dass einige Kommentatoren in dieser Partie den Anfang des Niedergangs Capablancas sahen, indem ihn seine berühmte Intuition, die ihm scheinbar mühelos den richtigen Weg durch Komplikationen wies, im Stich liess. Er macht dann den zaghaften Versuch, zu zeigen, dass er bis auf seinen letzten Fehler alles richtig gemacht hat. Sehen wir selber:
Jose Raúl Capablanca – Alexander Iljin-Schenewski
Moskau 1925.
1.e4 c5 2.Sc3 Sc6 3.g3 g6 4.Lg2 Lg7 5.Sge2 d6 6.d3 Sf6 7.0–0 0–0 8.h3 a6 9.Le3 Ld7 10.Dd2 Te8 11.Sd1 Tc8 12.c3 Da5 13.g4 Ted8 14.f4 Le8 15.g5 Sd7 16.f5 b5 17.Sf4 b4 18.f6
Iljin hat ideenlos gespielt und es Capablanca erlaubt, eine Angriffsstellung aufzubauen. Gut war anstelle des Textzuges
18.Sd5, mit der Idee 19.f6, nach z.B. 18…e6 19.Sf4 bxc3 20.bxc3 muss S zweimal auf f5 nehmen, wonach seine Stellung ziemlich verdächtig aussieht. Capablanca opfert einen Bauern für ein positionelles Druckspiel.
18…exf6 19.Sd5 fxg5 20.Lxg5 f6 21.Lh4 Lf7 22.S1e3 bxc3 23.bxc3.
Dies muss er im Sinn gehabt haben. Eine einfache, übersichtliche Variante. Wegen der Drohung 24.Sc4 muss S den Läufer geben: 23…Lxd5 24.Sxd5 Tb8. Weiss hat jedenfalls genug Kompensation, und Capablancas technische Fähigkeiten hätten sich voll entfalten können. Sein Gegner tut ihm den Gefallen der Vereinfachung nicht, aber sein Zug ist objektiv schwächer.
18…Lf8 19.Sf2
Er lässt eine taktische Chance aus: 19.a3 zwingt den Gegner praktisch zum Abschliessen des Damenflügels durch 19..b3, denn weder 19…bxa3 20.Txa3 noch 19…bxc3 20.Sxc3 sind erquicklich.
19…bxc3 20.bxc3 e6
Das hätte er nicht freiwillig tun sollen, denn er verschenkt damit zwei Tempi. 20…Tb8 21.Sd5 e6 22.Sf4 war korrekt.
Weiss hat nun die technisch nicht ganz einfache Aufgabe, über die h-Linie mattzusetzen, bevor das schwarze Gegenspiel durchdringt. Capablanca geht geradewegs auf das Ziel los.
21.h4 Tb8 22.h5 Tb6 23.hxg6 hxg6 24.Sd1 Sde5 25.Df2 Sg4 26.Dh4 Sce5
Statt dessen hätte 26…Sxe3 27.Sxe3 nur den Springer auf den Weg nach h6 katapultiert.
Nun ist dem Tf1 der Weg auf die h-Linie versperrt, und die Lage am Damenflügel wird brenzlig.. Wie soll Capa nun weiter kommen?
Was droht Schwarz eigentlich? 27…Sxe3 ist keine wirkliche Drohung: 28.Sxe3 Dxc3 29.Kh2 Dd2 30.Tae1, und gegen Kg3 nebst Th1 ist nichts zu erfinden. Offenbar hat Capablanca das gesehen, anders ist sein nächster Zug nicht zu erklären.
Um dem Turm den Weg auf die h-Linie frei zu kämpfen, muss der Sg4 beseitigt werden.
27.Lh3 Sxe3 28.Sxe3 Dxc3 ist kontraproduktiv, weil nun der Lh3 dem Turm im Weg steht, daher
27.Lf3 Sxe3 28.Sxe3, und 29.Kf2 nebst Th1 droht fürchterlich. Ihm bleibt nur 28…Tb2, der einzige Zug, der den König daran hindert, nach vorn zu laufen. 29.Sg4 Sxg4 30.Lxg4 Tdb8. Auch 30…Dxc3 31.Tf3 hilft nicht.
S hat es mit Mühe und Not geschafft, den Tf1 wegen dem Schach auf b1 von f3 fernzuhalten. Aber halt! Warum soll nicht der Ta1 über e3 nach h3 gehen? Also 31.Tae1 und gewinnt. Tatsächlich steht S diesem Manöver machtlos gegenüber. Ebenso leicht gewinnt 31.Se2 mit der Idee Kf2 oder Kg2 nebst Th1.
Eine andere Option ist, den Läufer von e3 wegzuziehen und dann den Sg4 abzutauschen. Dazu bietet sich 27.Ld2 an.
27…Da4 28.Sf2 Sxf2 29.Kxf2 und gewinnt.
27…Tdb8 28.Lh3 Tb1 29.Txb1 Txb1 30.Lxg4 und gewinnt.
Praktisch alle Züge, ausser dem, den Capablanca machte, waren gut. „Ich habe wie ein Wahnsinniger gespielt“ meinte er nach der Partie.
27.d4? Sxe3 28.Sxe3 Dxc3 29.dxe5 Dxe3+ 30.Kh1 dxe5
Capablanca hätte die Partie remis halten können:
31.Sxg6 fxg6 32.Tf3 De2 33.Taf1 Td1 (33…Lf7 34.Th3) 34.f7+ Lxf7 35.Txf7 Txf1+ 36.Lxf1 Dh5 37.Dxh5 gxh5 38.Tc7, aber er übersah in der Vorausberechnung das Damenopfer, und hier war er wohl zu deprimiert, um die Rettung zu finden. Der Rest war Schweigen.
31.Tf3? exf4 32.Txe3 fxe3 33.De1 Tb2 34.Dxe3 Tdd2 35.Lf3 c4 36.a3 Ld6 37.Da7 c3 0–1
Eine psychologisch hoch interessante Partie. Capablanca war im Lösen konkreter Stellungsprobleme bei weitem nicht so gut wie im Berechnen forcierter Abwicklungen. Besonders gegen Ende seiner Karriere liess er einigen Biss vermissen.
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