Strategie und Taktik

Ich vertrete die Ansicht, dass sich Schachpartien als Serie von taktischen Entscheidungen entwickeln und die sogenannte Strategie höchstens als Entscheidungshilfe eine gewisse Bedeutung hat.

Er – Ich, Blitz 3’+0“, Juni 2021

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 f5 4.d3 fxe4 5.dxe4 Sf6 6.O-O d6 7.Sc3 Le7 8.Lc4 Sa5 9.Le2 O-O 10.Sd5 Sc6 11.Sxe7+ Dxe7 12.Lg5 Df7 13.Dd3 Le6 14.h3 Dg6 15.Lxf6 Txf6 16.Sh2 Sb4 17.Dc3 Dxe4 18.Lf3 Dc4 19.Lxb7 Tb8 20.Sg4 Txb7 21.Sxf6+ gxf6 22.Dg3+ Kf7 0-1

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 f5

Das Jänisch-Gambit. Ich habe auf eine Empfehlung hin vor etwa einem halben Jahr damit angefangen und auf Anhieb gute Resultate gemacht. Stärkere Gegner ziehen an dieser Stelle eine der beiden Hauptvarianten 4.Sc3 und 4.d3 vor, während schwächere sich eher für harmlose Fortsetzungen wie 4.De2, 4.exf5 oder 4.Lxc6 entscheiden.

Dann gibt es noch die kleine Gruppe der Hasardeure, die mich mit dem Figurenopfer 4.d4 fxe4 5.Sxe5 Sxe5 6.dxe5 c6 7.Sc3 cxb5 8.Sxe4 d5 9.exd6 Sf6, und jetzt entweder 10.Lg5 oder 10.O-O, plagen. Das ist nicht ganz korrekt, aber im Blitz durchaus erfolgversprechend.

Apropos 4.d4 fxe4 5.Sxe5 Sxe5 6.dxe5 c6. Die Liste der Spieler, die danach den e-Bauern auf die eine oder andere Art eingestellt haben, ist lang. Unterm Strich sind sie sogar in der Mehrheit, und es sind ein paar GM auf dieser Liste, allen voran Judit Polgar, die dann ihre Partie trotzdem gewonnen hat.

4.d3 fxe4 5.dxe4 Sf6

Das ist ein Gegenangriff auf den e-Bauern. Weiss darf hier nicht zugreifen, aber es ist tricky: 6.Lxc6 bxc6 7.Sxe5 De7 8.Lf4, und jetzt wäre 8…Sxe4 9.O-O offensichtlich schlecht für Schwarz. Aber 8…d6 9.Sxc6 Dxe4+ 10.De2 Dxe2+ 11.Kxe2 Lb7 gewinnt den Bauern vorteilhaft zurück.

6.O-O

Der e-Bauer braucht natürlich nicht gedeckt zu werden. 6…Sxe4 7.De2 Sd6 8.Lg5 Le7 9.Sxe5 spielt sich von selbst.

6…d6

Dies ziehe ich dem viel beliebteren 6…Lc5 vor. Eigentlich erübrigt sich eine Diskussion darüber ob 6…Lc5 oder 6…d6 vorzuziehen ist, denn 6…d6 gehört zu meinem Repertoire und der Computer zieht es ebenfalls vor. Aber nehmen wir an, ich sähe diese Stellung zum ersten Mal und müsste mich nun entscheiden.

Zunächst sehe ich, dass mein e-Bauer hängt und ich ihn mit 6…d6 decken kann. Allerdings habe ich Zweifel, weil Weiss wahrscheinlich meine Rochade mit Lc4 verhindern wird. Notfalls könnte ich mit Lg4 nebst Dd7 die lange Rochade vorbereiten, was mir aber etwas langsam erscheint und dem Gegner sicher Angriffsmöglichkeiten geben wird.

Ich prüfe 6…Lc5 und sehe, dass ich nach 7.Lxc6 bxc6 8.Sxe5 O-O wahrscheinlich einige Kompensation für den Bauern habe. Natürlich hätte ich gerne den Läufer ausserhalb der Bauernkette, aber auf c5 steht er zunächst ungedeckt, und ich muss auf 7.Dd3 eine Antwort haben, was zunächst die Rochade wegen dem Damenschach auf c4, nebst Läufergewinn, verhindert. Decke ich dann den Läufer mit 7…d6, verhindert 8.Dc4 wiederum die Rochade und Weiss droht einen Bauern zu gewinnen, indem er zuerst auf c6 tauscht und dann mit b4 den Läufer angreift.

Kurzum, strategische Überlegungen helfen hier nicht, ich muss mir wohl oder übel taktische Antworten auf die härtesten Drohungen meines Gegners ansehen. Vor allem muss ich die Annahme des Bauernopfers ausrechnen. 6…Lc5 7.Lxc6 bxc6 8.Sxe5 O-O. Weiss wird e4 mit 9.Sc3 decken. Ich sehe z.B. 9…La6 10.Sd3 Lb6, ich habe immer noch einen Bauern weniger, aber doch einigen Druck auf den zwei Diagonalen. Auch 9…d6 kommt in Frage, um auf 10.Sd3 10…Ld4 zu spielen. Vielleicht sehe ich sogar 10.Sa4, was meine Hauptwaffe Lc5 vom Brett entfernt. Falls dann 11…Sxe4 12.Saxc5 Sxc5 13.Sxc5 dxc5 kommt, haben wir ungleich farbige Läufer, aber ich werde ums Remis kämpfen müssen.

Spiele ich 6…d6, muss ich mich um den Zug Lc4 kümmern, entweder sofort 7.Lc4 oder nach 7.Sc3 Le7 8.Lc4. Ja was nun? Je nach Charakter und Stimmungslage werde ich mich für den einen oder anderen Zug entscheiden. Bin ich allzu pessimistisch eingestellt, werde ich sogar nach Alternativen suchen, etwa 6…Ld6, was auch nicht gerade Vertrauen erweckend aussieht, und vor allem nichts gegen 7.Lc4 tut. Aber halt, geht da nicht 7…Sa5? Was ist dann mit 8.Ld5? Das sieht wegen meinen unkoordinierten Figuren ganz schlecht aus.

Nun, es hilft alles nicht, ich muss einen der beiden Züge machen, und mein Entscheid wird kaum von rationalen Erwägungen getragen sein, sondern wie gesagt meiner Stimmungslage entsprechen. Aber mein Entscheid kann nie und nimmer aufgrund langfristiger Strategien zustande kommen. Ich werde die Situation von Zug zu Zug neu prüfen müssen.

7.Sc3

Er macht selbstverständlich den Buchzug. Der zweit beliebteste ist 7.Dd3, um 8.Dc4 zu drohen. Auch hier hilft Buchwissen, nämlich 7…a6, um entweder den Abtausch des Läufers zu erzwingen, oder ihn mit Sa5 abzutauschen, sobald er auf die gefährliche Diagonale wechselt. Entweder 8.Lc4 Sa5 oder 8.La4 Le7 9.Lb3 Sa5. Damit sind wir bei der Hauptidee der schwarzen Verteidigung angekommen: Springer nach a5. Diesen Zug muss man halt kennen, wenn man diese Eröffnung spielt.

Weiss hat aber hier zwei andere giftige Ideen, die bisher praktisch nie gespielt wurden.

Die eine ist sofort 7.Lc4 mit der Drohung 8.Sg5. In einer früheren Partie sah ich keinen Unterschied und machte 7…Sa5. Nach 8.Le2 Le7 (8…Sxe4?? 9.Dd5) wurde ich von 9.b4 Sc6 10.b5 überrascht, wonach ich die Auswahl zwischen Pest und Cholera hatte, nämlich entweder 10…Sa5 11.Ld2 oder 10…Sb8 Lc4.

Nach 7.Lc4 muss 7…Lg4, auf 8.h3 dann 8…Lh5 kommen. Weiss hat viele gute Züge, und Schwarz einige ernsthafte Probleme zu lösen.

Die andere Idee ist 7.a3, um den Läufer notfalls über c4 nach a2 zu ziehen und somit die Idee Sa5 aus dem Spiel zu nehmen. 7…Sxe4 scheitert an 8.Sxe5 dxe5 9.Dh5+ usw. Es scheint aber, als ob dann 7…Le6 8.Sg5 Lg8 9.f4 auszuhalten ist.

7…Le7 8.Lc4 Sa5 9.Le2 O-O 10.Sd5 Sc6

Eine nach den vorangegangenen Abhandlungen logische Zugfolge. Wahrscheinlich hätte mein Gegner mit 9.Lb5+ bessere Chancen bekommen, weil ich kaum mit 9…Sc6 die Züge wiederholt, sondern 9…Ld7 10.Lxd7+ Dxd7 probiert hätte.

Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, über Strategie zu sprechen. Ich hatte mit meinem letzten Zug den Springer wieder ins Spiel gebracht und damit zusätzlich Sxe4 gedroht. Der Computer hält diese Stellung für total ausgeglichen und empfiehlt 11.Dd3, 11.Sd2 oder 11.b4. Letzteres deckt den e-Bauern indirekt, wegen 11.b4 Sxe4? 12.b5 und gewinnt. Nach 11…Sxd5 12.Dxd5+ Kh8 13.b5 Sb8 ändert das an der strategischen Situation wenig.

Wieso sollte man hier über Strategie reden? Nun, das liegt daran, dass eine vollkommen statische Bauernstruktur entstanden ist. Der Plan des Schwarzen ist klar, er wird ‚irgendwie‘ am Königsflügel angreifen, und dies mit komplett auf der Hand liegenden Schablonenzügen. Weiss hat nichts derartiges zur Hand, er wird sich mangels Gegenspiel passiv auf den kommenden Ansturm einrichten müssen. Auch wenn der Computer das für total ausgeglichen hält, die Stellung ist ein gefundenes Fressen für Schwarz.

Vor etwa 100 Jahren sind viele dieser ‚Strategien‘ entstanden. Sie alle hatten zum Ziel, statische Bauernstrukturen entweder herbeizuführen oder sie auszunützen. Ein Schachautor des frühen 20. Jahrhunderts hätte mich bestimmt gelobt, wie raffiniert ich diese Bauernstruktur herbeigeführt und wie kunstvoll ich sie dann verwertet habe. Keine dieser beiden Aussagen stimmt. Erst hatte ich mich mit taktischen Tricks knapp über Wasser gehalten, und hier ist es keineswegs so, dass diese Stellung vollautomatisch gewonnen ist, Weiss kann sie verteidigen. Trotzdem geht dieser Stellungstyp praktisch immer zugunsten von Schwarz aus. Das liegt daran, dass Weiss schlicht kein Gegenspiel hat. Er fängt gleich einmal mit einem zweifelhaften Zug an.

11.Sxe7+?! Dxe7 12.Lg5 Df7

Natürlich. Die Dame will nach g6, zudem hängt jetzt e4. Weiss kann sich vorerst mit 13.Sd2 Dg6 14.Lxf6 Txf6 15.f3 verteidigen.

13.Dd3 Le6?!

Ein überflüssiger Zug. Ich hätte die Schablone mit 13…Dg6 fortsetzen sollen. Aber wie gesagt, weil Weiss kein Gegenspiel hat, habe ich viel Zeit.

14.h3?

Die entscheidende Schwächung. Der Computer gibt als Rettung 14.Sd2 an. Z.B. 14…Dg6 15.f4! exf4 16.Lxf4 Sh5 17.Lxh5 Dxh5.

14…Dg6 15.Lxf6 Txf6 16.Sh2

Das war die Idee. Er möchte sich mit 17.Lg4 entgegen stemmen.

16…Sb4!

Eigentlich hat dieser Zug kein Ausrufezeichen verdient. Er war keineswegs das Resultat tiefgründiger Überlegungen, sondern sogar der erste, den ich mir angesehen habe. Aber wie komme ich dazu, solch einen kuriosen Hupf zuallererst anzusehen? Nun, ich habe mir jetzt bald 10 Jahre lang angewöhnt, alle zwingenden Züge der ‚Härte‘ nach zu prüfen. Der Härte nach ist ein Zug, der die Dame angreift, hier die absolute Option Nr. 1. Es stellte sich dann schnell heraus, dass die weisse Dame nicht gleichzeitig h3, e4 und c2 decken kann. Weiss ist verloren, die Fehler im 19. und 20. Zug beschleunigen nur seinen Untergang.

17.Dc3 Dxe4 18.Lf3 Dc4 19.Lxb7? Tb8 20.Sg4? Txb7 21.Sxf6+ gxf6 22.Dg3+ Kf7 0-1