In meinem Buch „Berechnung im Schach“ kommentiere ich die Partie Capablanca – Tartakower ausführlich. Ich versuche in der Analyse zu zeigen, ob und wie meine Kriterien zur Zugwahl geholfen hätten, die Fehler und Ungenauigkeiten zu vermeiden. Neuerdings kann man auf lichess.org gratis Genauigkeitsanalysen anfordern. Diese werden in etwa einer Minute erstellt und treffen öfters nicht den Kern der Sache. Trotzdem, sie schätzen die Qualität der gemachten Züge einigermassen realistisch ein.
José Raúl Capablanca – Savielly Tartakower
London 1922
1.d4 Sf6 2.Sf3 d5 3.c4 e6 4.Sc3 Le7 5.Lg5 O-O 6.e3 h6 7.Lh4 b6 8.cxd5 exd5 9.Db3 Le6 10.Td1 c6 11.Dc2 Se4 12.Lxe7 Dxe7 13.Sxe4 dxe4 14.Dxe4 Db4+ 15.Sd2 Dxb2 16.Ld3 g6 17.Df4 Kg7 18.h4 Sd7 19.Se4 Dxa2 20.h5 g5 21.Dg3 Da5+ 22.Ke2 f5 23.Sxg5 hxg5 24.Dxg5+ Kf7 25.h6 Tg8 26.Dh5+ Ke7 27.h7 Txg2 28.Kf1 Dd5 29.h8=D Txh8 30.Dxh8 Df3 31.Td2 Ld5 32.Ke1 Tg8 33.Dh4+ Kd6 34.Tf1 Le6 35.Tc2 a5 36.Dh2+ Ke7 37.Le2 De4 38.Kd2 c5 39.Ld3 Dg2 40.Dh4+ Dg5 41.Dxg5+ Txg5 42.Tb1 f4 ½-½
Auf lichess.org gibt es eine Funktion Werkzeuge -> Partie importieren, mit der Möglichkeit, sie gleich von Stockfish analysieren zu lassen. Was dabei herauskommt, ist eine Statistik über die Anzahl grober Patzer, gewöhnlicher Fehler und Ungenauigkeiten. Zudem wird am Schluss die durchschnittliche Anzahl verschenkter Hundertstel pro Zug angegeben.
Importiert man z.B. die Partie Carlsen-Grischuk, Shamkir Chess 2019, 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 Sf6 4.d3 Lc5 5.c3 O-O 6.O-O d6 7.La4 Se7 8.Lc2 Sg6 9.d4 Lb6 10.a4 c6 11.dxe5 Sxe5 12.Sxe5 dxe5 13.Dxd8 Txd8 14.a5 Lc5 15.Sd2 Le6 16.Te1 b5 17.Sb3 Lxb3 18.Lxb3 Sg4 19.Te2 Td6 20.Lg5 Kf8 21.Tf1 Sf6 22.g3 a6 23.Kg2 Sd7 24.Lc1 La7 25.f4 f6 26.h4 Te8 27.h5 h6 28.La2 c5 29.Le3 exf4 30.gxf4 Txe4 31.Lb1 Te7 32.Tfe1 f5 33.Lxf5 Sf6 34.Kf3 Sd5 35.Td2 Td8 36.Le4 Ted7 37.Ted1 Sf6 38.Txd7 Sxd7 39.Td6 1-0, so erhält man für Magnus‘ Spiel die Statistik 0 Böcke, 0 Fehler, 0 Ungenauigkeiten und 9 verschenkte Hundertstel pro Zug. Grischuks Spiel war weniger perfekt, er hat ja schliesslich verloren.
Die Statistik sagt nichts über die Schwierigkeit der Züge. Diese Partie muss einem Carlsen wohl ziemlich leicht gefallen sein. Trotzdem, mich hat sie enorm beeindruckt.
Die Stockfish-Analyse ergibt für Capablanca 3 Fehler, 6 Ungenauigkeiten und 33 Hundertstel, Für Tartakower 1 grober Patzer, 0 Fehler und 8 Ungenauigkeiten, nebst 37 vergebenen Hundertsteln pro Zug. Capablancas Werte sind über alle seine Partien hinweg wahrscheinlich besser. Vielleicht gibt es diese Statistik ja bereits. Damals wurde ziemlich fade gespielt, was das Finden von korrekten Zügen natürlich erleichterte. Ich denke dabei z.B. an die Weltmeisterschaften 1921 und 1927, wo fast ausschliesslich orthodoxes Damengambit gespielt wurde. Man könnte nun meinen, dass diese Partie besonders anspruchsvoll war, weil beide schwach gespielt haben. Das ist nicht der Fall, sie bietet keine besonderen Schwierigkeiten.
1.d4 Sf6 2.Sf3 d5 3.c4 e6 4.Sc3 Le7 5.Lg5 O-O 6.e3 h6 7.Lh4 b6 8.cxd5 exd5 9.Db3 Le6 10.Td1 c6 11.Dc2 Se4 12.Lxe7 Dxe7 13.Sxe4 dxe4?!
Die erste Ungenauigkeit. Stockfish gibt 13…Lf5 14.Sfd2 dxe4 15.Le2 an, setzt dann aber mit schwachen Zügen fort. Kein Wunder, braucht er doch nur etwa eine Minute für die Analyse. Trotzdem, sein Argument ist stichhaltig.
14.Dxe4 Db4+ 15.Sd2
15.Td2 war besser. Stockfish kritisiert das nicht einmal. Ich gebe in der ‚Berechnung‘ als Begründung an, dass nach 15.Td2 Lxa2 bei Weiss nichts hängt, im Gegensatz zur Partiefortsetzung, wo der Ba2 einsteht.
15…Dxb2 16.Ld3 g6 17.Df4 Kg7 18.h4 Sd7 19.Se4?!
Im Prinzip ja. 19.O-O war der angemessene Zug
19…Dxa2?!
Stockfish gibt 19…Db4+ an, aber schon 20.Kf1 ist schwach. Besser 20.Ke2. Das Schach ist vielleicht eine Spur besser, als den Bauern zu nehmen.
20.h5?
Der erste Fehler. 20.O-O war richtig.
20…g5 21.Dg3?!
Jeder andere Damenzug war besser. Nach 21…f5 steht Schwarz so gut wie auf Gewinn.
20.Da5+?!
Als Ungenauigkeit bewertet, obwohl es ein Fehler ist, der den Gewinn vergibt.
22.Ke2 f5??
22…Dd5 oder 22…Tad8. Auch Stockfishs 22…Lf5 ist okay. Weiss hat nichts für den Bauern. Interessant, dass Tartakower diesen Verlustzug in seiner Partiebesprechung für remis hält.
23.Sxg5 hxg5 24.Dxg5+ Kf7 25.h6 Tg8 26.Dh5+ Ke7 27.h7 Txg2 28.Kf1?
Hier gibt Stockfish den Gewinn 28.Ta1 Dc3 29.Tac1 Txf2+ 30.Kxf2 Dxd3 31.Dg5+ Sf6 32.Th6 Dd2+ 33.Kf3 Ld5+ 34.Kf4 Df2+ 35.Ke5, fast möchte man sagen „maschinenmässig“ genau an. Kombinationen sieht er natürlich in Überlichtgeschwindigkeit.
28…Dd5 29.h8=D?!
Diese Bewertung stimmt nicht. Das angegbene 29.Dh3 ist nur eine Spur besser.
29…Txh8 30.Dxh8 Df3 31.Td2 Ld5 32.Ke1 Tg8?!
Richtig war 32…Tg5 mit Ausgleich. Das hat sogar Tartakower gemerkt.
33.Dh4+?!
Das falsche Schach. Ist aber kompliziert.
33…Kd6?!
Natürlich sollte 33…Sf6 kommen. Das macht aber keinen wesentlichen Unterschied.
34.Tf1 Le6?!
Das hingegen ist so schwach, dass ich ihm ein Fragezeichen verpasst habe. 34…Kc7 lag auf der Hand.
35.Tc2 a5 36.Dh2+ Ke7 37.Le2?!
Der Gewinnzug 37.Dc7 war offensichtlich.
37…De4 38.Kd2 c5?!
Hat ein Fragezeichen verdient. Seine letzte Chance war 38…f4. Auch 38…Tg2 39.Dh7+ Kd6 war eine Überlegung wert.
39.Ld3?!
39.Dh7+ Kd6 40.Lb5 gewann.
39…Dg2 40.Dh4+ Dg5 41.Dxg5+ Txg5 42.Tb1?!
Falsche Bewertung. Der Zug gewinnt auch.
42…f4?!
Das verliert forciert. 43.exf4 Td5 44.Te1 Kf6 45.Txe6+ Kxe6 46.Lc4 cxd4 47.f5+ Kd6 48.Lxd5 Kxd5 49.Tc7 Sf6 50.Te7.
½-½
Die Einschätzungen stimmen nicht immer. Ein paar ‚Ungenauigkeiten‘ waren unter dem Strich keine. Anderseits wurden Verlustzüge und ausgelassene Gewinne nur als ungenau bewertet. So im Schnitt kann man durchaus Rückschlüsse auf die Qualität der Partie ziehen. Ebenso auf die Spielstärke der Kontrahenten. Ich habe anderswo Capablanca als Weltmeister auf etwa 2400 Elo geschätzt. Obwohl – diese Partie spricht eigentlich dagegen…
Die Partie Capablanca-Bogoljubow, Moskau 1925 wurde in vielen Besprechungen hoch gelobt. Immerhin spielte da der Weltmeister gegen den späteren Turniersieger. Ich gebe die Partie in PGN-Notation, damit Sie sie direkt ins Analysetool einfügen können.
1.d4 d5 2.c4 e6 3.Nf3 dxc4 4.e4 c5 5.Bxc4 cxd4 6.Nxd4 Nf6 7.Nc3 Bc5 8.Be3 Nbd7 9.Bxe6 fxe6 10.Nxe6 Qa5 11.O-O Bxe3 12.fxe3 Kf7 13.Qb3 Kg6 14.Rf5 Qb6 15.Nf4+ Kh6 16.g4 g5 17.Qxb6 axb6 18.Rd1 Rg8 19.Nfd5 Nxg4 20.Ne7 Rg7 21.Rd6+ Kh5 22.Rf3 Ngf6 23.Rh3+ Kg4 24.Rg3+ Kh5 25.Nf5 Rg6 26.Ne7 g4 27.Nxg6 Kxg6 28.Rxg4+ Kf7 29.Rf4 Kg7 30.e5 Ne8 31.Re6 Nc7 32.Re7+ 1-0
Die groben Böcke verfälschen natürlich die Hundertstel-Statistik. Bogoljubow hat nicht alle vier Züge drei Bauern – oder eine Figur -eingestellt. Ich habe noch wenig Erfahrung, aber ich denke, dass so 20-30 Hundertstel für eine 3’+2“-Blitzpartie normal sind, je nach Schwierigkeit dürfen es auch mehr sein. Allerdings verfälscht es das Bild, wenn der Gegner die Dame einstellt und ich übersehe es, was dann beiden mit 9 Bauerneinheiten zu Buche schlägt. Es wäre besser, nur die Ungenauigkeiten und Fehler zu berücksichtigen, und auch nur die Stellungen, die zwischen +3 und -3 liegen, weil es irrelevant ist, ob ich +10 auf +6 herunter wurschtle. Was nicht ist, kann ja noch werden…
Für eine starke GM-Partie sollte der Wert so um 10-15 Hundertstel und eine bis zwei Ungenauigkeiten herum liegen. Allerdings kann dort ein Spieler nach und nach in die Bredouille kommen, ohne je eine sogenannte Ungenauigkeit begangen zu haben. Schon im 5’+3“-Blitz sind Super-GM in der Lage, in dieser Liga zu spielen, wie die entscheidende Partie Swidler-Karjakin, Weltcup-Finale 2015 zeigt:
1.e4 e5 2.Nf3 Nc6 3.Bc4 Bc5 4.c3 Nf6 5.d3 d6 6.Nbd2 O-O 7.h3 Ne7 8.O-O Ng6 9.Bb3 a6 10.Re1 Ba7 11.Nf1 Be6 12.d4 Bxb3 13.Qxb3 Qc8 14.Ng3 Re8 15.Bg5 Nd7 16.Nf5 Ndf8 17.h4 h6 18.h5 hxg5 19.hxg6 Nxg6 20.Nxg5 Qd7 21.g3 d5 22.Qxd5 Qxd5 23.exd5 Rad8 24.Kg2 Rxd5 25.f4 f6 26.Ne4 Rdd8 27.fxe5 fxe5 28.d5 Rxd5 29.Nh6+ Kf8 30.Rf1+ Nf4+ 31.gxf4 gxh6 32.f5 Kf7 33.Rad1 Rg8+ 34.Kf3 c6 35.c4 Rd4 36.Rxd4 exd4 37.Rh1 Rh8 38.Rg1 Rd8 39.f6 Ke6 40.Rg7 Rd7 41.Rg8 d3 42.Re8+ Kf7 43.Rh8 Ke6 44.Rxh6 d2 45.f7+ Ke7 0-1
Diese Partie bekommt die Werte 1 grober Fehler, 4 Ungenauigkeiten und 21 Hundertstel für Weiss, 1 Ungenauigkeit und 13 Hundertstel für Schwarz. Diese Werte sind natürlich teilweise der anspruchslosen Eröffnung zuzuschreiben. Karjakin hat – insbesondere in schwieriger Stellung – wirklich ausgezeichnet gespielt, bis auf seinen Fehler 17…h6, was nicht nur eine Ungenauigkeit war, sondern mindestens einen Bauern verliert. Hingegen war Swidlers 18.h5 keine Ungenauigkeit, sondern der Gewinnzug. Für die Erkenntnis, dass Weiss danach forciert gewinnt, reichen ein paar Sekunden Stockfish nie und nimmer aus, es braucht schon eine ausgefeilte Vorwärts-Rückwärts-Analyse.