Fünfzehn zu Null

Drachenspieler sind eine ganz besondere Spezies unter den Schachspielern: Extrem innovativ, stur und leidensfähig. Sie lassen sich auch von miesesten Resultaten nie entmutigen und tüfteln immer neue Tricks aus.

Judit Polgar – Gregory Kaidanov
Thema-Match Sizilianisch, Hilton Head 2010

1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 g6 6.Le3 Lg7 7.f3 Sc6 8.Dd2 O-O 9.Lc4 Ld7 10.O-O-O Tc8 11.Lb3 Se5 12.Kb1 Te8 13.h4 h5 14.g4 hxg4 15.h5 Sxh5 16.Tdg1 e6 17.Lh6 Df6 18.fxg4 Lxh6 19.Dxh6 Dg7 20.Dd2 Sf6 21.g5 Sh5 22.Sce2 Sc4 23.Lxc4 Txc4 24.b3 Tc5 25.Sg3 Sxg3 26.Txg3 Tec8 27.Tgh3 e5 28.Th4 exd4 29.Dh2 Kf8 30.Dxd6+ Kg8 31.Dxd7 d3 32.c4 Dc3 33.T4h2 b5 34.e5 Dxe5 35.Th7 T5c7 36.Dd6 1-0

1.e4 c5 2.Sf3 d6

Wie leitet man in den Drachen über? 2…Sc6 oder 2…d6? Nach 2…Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 g6 fürchten die meisten Drachenspezialisten 5.c4 und versuchen, dem aus dem Weg zu gehen, etwa mit 4…d6, um 5.Sc3 abzuwarten, und erst danach 5…g6 zu spielen.

Ich halte die Varianten
2…Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 g6 5.Sc3 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Lc4 Da5 8.O-O O-O und
2…Sc6 3.d4 cxd4 4.Sxd4 g6 5.Sc3 Lg7 6.Le3 Sf6 7.Lc4 O-O 8.Lb3 a5 für absolut spielbar. Aber das ist nicht der Punkt. Drachenspieler möchten, dass Weiss lang rochiert, und hoffen, mit ihrem Angriff zuerst zu kommen.

3.d4 cxd4 4.Sxd4 Sf6 5.Sc3 g6 6.Le3 Lg7 7.f3 Sc6 8.Dd2 O-O 9.Lc4 Ld7 10.O-O-O

Der Jugoslawische Angriff, ein Relikt vergangener politischer Verhältnisse.

In den 2000-er Jahren ist 10…Tb8 in Mode gekommen, der so genannte chinesische Drachen. Mein persönliches Rezept dagegen lautet 11.Kb1 Sa5 12.Lb3 b5 13.g4 Sc4 14.Lxc4 bxc4 15.Ka1, und der Turm auf b1 wird den Angriff auf der b-Linie ganz allein aufhalten. Allerdings scheine ich gerade nicht mehr up do date zu sein, einer meiner Gegner hat mir kürzlich 15…Tb7 16.h4 Da5 17.h5 Tfb8 18.Tb1 Tb4 aufgetischt, und nicht nur überlebt, sondern sogar eine Art Angriff bekommen.

Der Hauptzug des 20. Jahrhunderts war 10…Da5. In den Datenbanken findet man diesen Zug kaum mehr, weil Schwarz nach 11.Kb1 Tfc8 12.Lb3 Se5 13.g4 Sc4 14.Lxc4 Txc4 15.Sb3 klinisch tot ist, denn im nächsten Zug kommt 16.e5. Trotzdem bekomme ich diese Stellung gelegentlich aufs Brett. Das ist nicht unbedingt der Sturheit zuzuschreiben, sondern eher einem Wissensrückstand. Einer meiner Gegner hat nämlich daraus gelernt, derselbe, der mich nun mit dem Chinesischen Drachen oder der Jones-Variante (siehe unten) quält.

10…Tc8 11.Lb3 Se5

Gawain Jones, der führende Drachenexperte, bevorzugt hier 11…Sxd4 12.Lxd4 b5, aber auch er hat 2015 nach 13.Sd5 Sxd5 14.Lxg7 Kxg7 15.exd5 a5 16.a3 eine herbe Niederlage einstecken müssen.

12.Kb1

Der Hauptzug. 12.h4 wird unterdessen weniger gespielt, weil der direkte Shampoo-Angriff 12…h5 13.g4 nicht so erfolgreich ist.

Nun steht 12…Sc4 13.Lxc4 Txc4 14.g4 mit 75% Gewinnprozenten für Weiss zu Buche. Magnus Carlsen versuchte 2008 gegen Anand und Dominguez mit 12…a6 zu verstärken. Das Resultat war nicht ermutigend. Kaidanov spielt den Zug, der bis zu dieser Partie als solide galt.

12…Te8 13.h4 h5 14.g4 hxg4 15.h5 Sxh5 16.Tdg1

Eine zweifelhafte Neuerung. Wahrscheinlich ist der alte Zug 16.Lh6 genauer, weil Schwarz jetzt mehr Optionen hat, etwa 16…Da5.

16…e6

Er verteidigt nach dem alten Schema. Jetzt wird es eine Zugumstellung.

17.Lh6 Df6 18.fxg4 Lxh6 19.Dxh6 Dg7

Das war damals die theoretische Empfehlung. Ich hatte ungefähr zur gleichen Zeit diese Stellung als Eventualvariante in einer Fernpartie auf dem Brett, und versucht, sie mit Rybka zu knacken, was mir nicht gelang. Mein Gegner spielte eh etwas anderes.

Judits nächster Zug widerlegt die Variante. Ich hatte seinerzeit nur 20.De3 analysiert und war zu keinem klaren Ergebnis gekommen.

20.Dd2 Sf6 21.g5 Sh5 22.Sce2

Das ist seither noch fünfzehn Mal aufs Brett gekommen. Die nächsten vierzehn Partien wurden allesamt von Weiss gewonnen. Erst die fünfzehnte endete remis, weil der Weiss-Spieler fürchterlich patzte.

Die beste Chance war noch 22…Kf8, um nach e7 zu fliehen.

22…Sc4 23.Lxc4 Txc4 24.b3 Tc5 25.Sg3 Sxg3 26.Txg3 Tec8 27.Tgh3 e5 28.Th4 exd4 29.Dh2

Die Pointe von 20.Dd2. Die Dame betritt die h-Linie, was sie von e3 aus nicht gekonnt hätte.

29…Kf8 30.Dxd6+ Kg8 31.Dxd7 d3 32.c4 Dc3 33.T4h2 b5 34.e5 Dxe5 35.Th7 T5c7 36.Dd6 1-0

Kaidanov muss man zugute halten, dass er kein Drachenspieler ist. Was seine fünfzehn Nachfolger betrifft, kann ich nur den Kopf schütteln. Wer den Drachen spielen will, muss über alle neuen Versuche Bescheid wissen und ihnen entweder ausweichen oder dagegen etwas parat haben. Trotzdem riskiert man, Opfer eines neuen Anwurfs zu werden, wie hier der gute Gregory.