Aaron Nimzowitsch

Aaron Nimzowitsch war der bisher bedeutendste Schachideologe. Auf seine Kappe gehen Begriffe wie Blockade, Überdeckung und Prophylaxe. Ausserdem hat er das Nimzoindisch, und die weniger erfolgreiche Nimzowitsch-Verteidigung,  erfunden.

Ich habe einige Partien von Nimzowitsch analysiert. Er spielte öfters ziemlich ungenau. Er war von seinen abstrakten Ideen betreffs Zentralisierung, Blockade, Hemmung und Überdeckung so überzeugt, dass er seinen Gegnern dadurch viele taktische Chancen gab. In seinen Kommentaren pflegt er Fehler seiner Gegner zu übergehen, seine eigenen sowieso. Es entstand so der Eindruck, als ob sein System die Gegner besiegt hätte:

Nimzowitsch – Leonhardt
San Sebastian 1912

1.e4 e6 2.d4 d5 3.e5 c5 4.Sf3 Db6 5.Ld3 cxd4.

Die Stammpartie des „Blockadeopfers“.

6.0-0 Sc6 7.a3 Sge7 8.b4 Sg6 9.Te1 Le7 10.Lb2 a5?

„Etwas besser wäre a6“, so Nimzowitsch in der „Praxis meines Systems“.

10…a5 ist ein Stümperzug und ein schon fast entscheidender Bock. Selbstverständlich war 10…0-0 11.Sbd2 f6 mit schwarzem Vorteil angesagt, aber das hätte ja die Blockade-Idee widerlegt…

11.b5 a4 12.Sbd2 Sa7?. Der entscheidende Fehler, kommentarlos übergangen. Nach 12…Sa5 stand er zwar sehr schlecht, aber noch nicht verloren.

13.Lxd4 Lc5 14.Lxc5 15.Dxc5 15.c4 dxc4 16 Se4 Dd5 17.Sd6+ Ke7 18.Sxc4 Dc5 19.Lxg6 hxg6 20.Dd6+ Dxd6 21.exd6 1-0

Michell – Nimzowitsch, Marienbad 1925,

1.e4 c5 2.Sf3 Sf6 3.e5 Sd5 4.Sc3 Sxc3 5.dxc3 b6

Nimzowitsch kommentiert in der „Praxis meines Systems“: „Ein Gedanke von hypermoderner Kühnheit. Er versucht die eigene Entwicklung künstlich zu verlangsamen, damit der Gegner vorschnell Farbe bekenne.“ Die selbe Stellung kam 20 Jahre später in einer Partie zwischen zwei Nimzowitsch-Kennern auf das Brett, nämlich in

Petrosian-Grigorjew, Tiflis 1945. 

Petrosian bekannte „vorschnell Farbe“.

6.e6 dxe6 7.Dxd8+ Kxd8 8.Se5 Ke8 9.Lb5+ Ld7 10.Sxd7 Sxd7 11.Lf4 e5 12.0-0-0 f6 13.Lxd7+ 1-0.

Tatsächlich ist Schwarz nach 6.e6 komplett verloren. Nimzowitsch war nie auf die Idee gekommen, diesen Zug überhaupt zu prüfen, ebenso der starke Meister Grigorjew, der mit Vorliebe Nimzowitschs Eröffnungen anwandte. Petrosian kannte laut eigener Aussage die Partien aus der „Praxis meines Systems“ auswendig. Dieses Beispiel zeigt, dass er Nimzowitzschs Pläne und Ideen auf ihren konkreten Gehalt überprüft hat.

Nimzowitschs Bücher sind hingegen aus literarischen Gründen allemal lesenswert. Für einen Schach-Bilbliophilen gehören die Klassiker  in der Kunstleder-Ausgabe des Schach-Archivs Hamburg einfach ins Regal, zusammen mit der weissen Kunstleder-Ausgabe Hans Kmochs KuDeBaFü, „Kunst der Bauernführung“.

Es scheint mir, dass Spieler wie Nimzowitsch, Réti oder Tarrasch tatsächlich „aufs Geratewohl“ spielten, obwohl sie das Gegenteil davon beabsichtigten, nämlich ihre Züge einem, wie auch immer gearteten, „System“ unterordneten, und es dabei mit der Taktik nicht allzu genau nahmen.

Überhaupt wird die Spielstärke der Spieler vor 1930 abgesehen von ein paar Ausnahmen, erheblich überschätzt. Besonders das Verständnis von Angriff und Initiative hinkte dem technischen und positionellen Verständnis weit hinterher. Aljechins „Vernichtung“ der alten Garde in San Remo 1930 und Bled 1931 war der Beginn des „modernen“ Schachs. In den 30-er  Jahren erschien auf einmal eine neue Generation Schachspieler, die es allesamt mit Lasker, Capablanca und Aljechin aufnehmen konnte: Botwinnik, Euwe, Keres, Flohr, Fine und Reshevsky.

Aaron Nimzowitsch – Milan Vidmar
Karlsbad 1907

1.Sf3 d5 2.d3 Sc6 3.d4 Sf6 4.a3

Es ist nicht verboten, den Anzugsvorteil zu verschenken. Nimzowitsch bekennt, dass er mit diesem Zug auf Zugzwang gespielt hat. Er sagt, dass 4…e6 den Läufer einsperrt, auf 4…Lf5 5.e3 e6 6.c4 käme, und auf 4…Lg4 der Partiezug.

Von Zugzwang kann keine Rede sein, es wäre z. B. ganz gut gewesen, den Textzug „gebührend“ mit 4…a6 zu beantworten. Was er auf 4…g6 gespielt hätte, verrät er nicht.

Vidmar bringt sich durch seine nächsten zwei Züge in Schwierigkeiten.

4…Lg4 5.Se5 Lh5?! 6.c4 e6 7.Da4 Ld6?

Das verliert bereits. Nur noch 7…Le7 war spielbar.

8.Sxc6 Dd7 9.cxd5 exd5 10.e3 bxc6 11.La6, auch dann ist seine Lage nicht beneidenswert.

Nimzowitsch glaubt, dass nach dem Bauerngewinn 7…Le7 8.Sc3 0-0 9.Sxc6 bxc6 10.Dxc6 Schwarz zu wenig Kompensation hat, und nicht dazu kommt, seinen Entwicklungsvorsprung zu verwerten. Diese Ansicht ist nach der natürlichen Folge 10…Tb8 11.e3 Tb6 12.Da4 dxc4 13.Lxc4 c5 14.dxc5 Lxc5 diskutabel.

8.Sxc6 Dd7

9.e4 droht eine Gabel.

9…Sxe4 10.f3 Sf6 11.c5, und nach 11…Le7 12.Lb5 a6 13.Sxe7 Dxb5 14.Dxb5+ axb5 15.g4 ist eine Figur futsch.

9…dxe4 10.c5 Le7 11.Lb5 a6 12.Sc3 Dc8 13.Lc4 bxc6  14.Dxc6+ Sd7, Weiss steht auf Gewinn.

Zugegeben, das ist nicht leicht zu sehen.

9.c5 Le7

Nimzowitsch will mit La6 den Damenflügel blockieren. Das hätte er mit 10.e3 (droht Lb5) bxc6 11.La6 Tb8 12.0-0 erreicht. Er konnte nicht voraussehen, dass sein nächster Zug Gegenspiel zulässt. Er machte diesen übrigens, „um Dxc6 zu verhindern, der Blockierende muss den Abtausch in der Regel zu vermeiden suchen.“

10.Lf4 bxc6 11.e3 0–0 12.La6 Tfb8 13.b4 Se8?

Seine letzte und gute Chance war 13…Se4, weil 14.f3 e5 15.Lxe5 Lh4+ in einen starken Opferangriff hinein läuft: 16.g3 Lxf3 17.Tf1 Lh5 18.gxh4 Dh3. Nach 14.0-0 g5 15.Lg3 Lg6 ist Schwarz zurück in der Partie.

Auch im Kommentar zu dieser Partie äussert sich Nimzowitsch nicht darüber, wie Schwarz hätte spielen sollen.

Schwarz steht auf Verlust. Er hält bis zum 39. Zug durch, und wird von Nimzowitsch reich belohnt. Auch sein nächster Verlustversuch im 41. Zug fruchtet nichts.

14.0–0 f6 15.Sd2 g5 16.Lg3 Sg7 17.h3 Le8 18.Lh2 Ld8 19.g4 h5 20.Dd1 Lg6 21.Sb3 hxg4 22.hxg4 f5 23.Le5 fxg4 24.Dxg4 Sf5 25.Sa5 Dh7 26.Le2 Dd7 27.Dh3 Kf7 28.f4 g4 29.Lxg4 Le7 30.Ta2 Tg8 31.Tg2 Sh4 32.Tg3 Taf8 33.Kf2 Th8 34.Lxh8 Txh8 35.Tfg1 Th6 36.Lh5 Lxh5 37.Tg7+ Ke8 38.Tg8+ Lf8 39.Dxh4 Dh7 40.Txf8+?? Kxf8 41.f5 exf5?? 42.Th1 f4 43.Dd8+?? Le8 44.Df6+ Txf6 45.Txh7 Lf7 ½–½

Weiter zu Richard Réti, zurück zu Siegbert Tarrasch

Antiquarische Schachbücher