Entwicklung

Als Jugenschachtrainer hielt ich keine Vorträge, sondern spielte viel Blitzsimultan und Simultan ohne Uhr gegen meine Schüler. Blitzsimultan hatten sie am liebsten. Sie erfanden allerhand Tricks, um mich über die Zeit zu jagen. Zum Beispiel hatte ich bei einem gerade einen Bauer geschlagen, und wartete darauf, dass er zurückschlug. Aber nichts dergleichen. Er zog erst, als ich mich einem anderen Brett zugewandt hatte, dann aber blitzschnell.

Im Simultan versuchte ich ihnen meine Ansichten zu vermitteln. Das hörte sich dann ungefähr so an:

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 h6

Ich: „Was droht das?“ Er: „Nichts, aber wenn ich 3…Sf6 ziehe, dann machen Sie dieses blöde 4.Sg5.“

4.d4 d6

Ich: „Und was droht das?“ Er: „Wieso, der Bauer ist angegriffen. Ich decke ihn.“

5.dxe5 dxe5 6.Dxd8+

Er: „Na ja, dumm gelaufen“. Ich: „Nichts da, dumm gelaufen. Verteidigen ist immer falsch.“

Anfänger neigen dazu, mechanisch zu decken. Mit der Zeit hatte ich meine Schüler so weit, dass sie es mit den Gegenangriffen übertrieben. Aber gerade das brachte ihnen ungeahnte Erfolge, weil sie begannen, gegen „stärkere“ Spieler haushoch zu gewinnen. Diese kannten ja den Trick mit dem Angreifen nicht, und verteidigten treuherzig.

Ein anderer Schachlehrer hätte gepredigt, dass 3…h6 kein Entwicklungszug ist. Entwicklung als Selbstzweck lasse ich nicht gelten. Vergleichen Sie dazu meinen Artikel über Tarrasch.

Evans Gambit C51

1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.b4 Lxb4 5.c3 La5 6.d4 cxd4 7.0-0 d6 8.cxd4 Lb6

Richard Réti kommentiert diese Stellung in seinen „neuen Ideen im Schachspiel“ wie folgt:

„Vor Morphy waren hier die gebräuchlichen Fortsetzungen 9.d5, der nächstliegende Angriffszug, den ein Spieler von heute sicherlich nicht machen würde, da er den Lc4 verstellt, und die Beherrschung von e5 aufgibt. Ferner 9.Lb2 mit der Drohung 10.d5 mit Doppelangriff und schliesslich sogar der rein defensive Zug 9.h3. Erst durch Morphy  wurde der uns am natürlichsten erscheinende Entwicklungszug 9.Sc3 allgemein üblich.

Diese Art, Schach zu spielen, bei der man nicht die einzelnen Züge vorauszuberechnen trachtet, sondern sich von allgemeinen Prinzipien leiten lässt, nennen wir Positionsspiel.“

Betrachten wir die Stellung methodisch. Schwarz droht offensichtlich 9…Lg4 mit Angriff auf d4. Erst wenn ich keinen stärkeren Gegenangriff finde, werde ich 10.h3 spielen.

9.Sg5 Sh6 ist offensichtlich ein Schlag ins Wasser.

9.Db3 Sa5 10.Da4+ Ld7 11.Lb5 c6 ebenso.

9.Lb2 Sa5 10.Ld3 Se7 ist akzeptabel, aber danach muss ich wohl schon 11.h3 ziehen, und eben das möchte ich vermeiden. Ausserdem ist statt 9…Sa5 einfach 9…Sf6 gut., wonach ich erst mal zeigen muss, wofür ich den Bauern geopfert habe.

9.d5 ist nach wie vor der meist gespielte Zug.

Der direkte Gegenangriff 9…Df6 erlaubt eine kleine Kombination: 10.dxc6 Dxa1 11.Lxf7 Kxf7 12.Db3+ Kf8 13.Lb2

9…Se5 wäre ein Fehler, der Weiss die Diagonale a3-f8 überlässt, etwa 10.Sxe5 dxe5 11.Sd2 Se7 12.La3 0-0 13.Dh5 und gewinnt.

Auf 9…Sce7 stellt 10.e5 Schwarz vor schwierige Probleme. Weiss hat keineswegs „die Kontrolle über e5“ aufgegeben.

Der methodische Gegenangriff 9…Sa5 10.Ld3 Sf6 11.Sc3 0-0 12.h3 überlässt Weiss genug Kompensation. Immerhin hat Weiss nach 9…Sa5 an die 70% erzielt.

Der „Angriffszug, den ein Spieler von heute sicherlich nicht machen würde“, ist also völlig akzeptabel.

Nun zu 9.Sc3, der gut sein soll, weil er „aus allgemeinen Prinzipien“ geschieht, nämlich einfach eine Figur entwickelt.

Zunächst und zuvorderst muss er die Drohung 9…Lg4 bedienen, aber weshalb soll  nun ausgerechnet 9.Sc3 diese zumindest abwehren, oder sogar übertrumpfen? Nehmen wir an, Schwarz sei am Zug, also 9.— Lg4 10.Lb5 Lxf3 11.gxf3, der Bauer d4 ist gedeckt, und es droht 12.d5. Jetzt folgt der Konter 11…Df6, wonach 12.d5 den Ta1 einstellt, Schwarz zunächst mit 12…Sge7 die Drohung dxc6 bedient, und weiterhin den Turm bedroht. Nach 12.Sc3 Dxc3 13.Tb1 0-0 hat Weiss für nichts zwei Bauern weniger.

9.Sc3 ändert die Sachlage insofern, als nun nach 9…Lg4  10.Lb5 Lxf3 11.gxf3 Df6 am Gegenkonter 12.Sd5 Dxd4? 13.Sxc7+ scheitert.  Es droht wieder 12.d5 und das kann nur durch 11…Kf8 bedient werden.

Nach 9…Lg4 10.Lb5 muss Schwarz somit zwischen zwei Übeln aussuchen, nämlich entweder den Läufer passiv nach d7 zurück ziehen, oder mit entweder sofort 10…Kf8, oder 10…Lxf3 11.gxf3 Kf8 die Rochade aufgeben. Ob diese Züge spielbar sind, sei dahingestellt, sie wurden ziemlich oft ausprobiert, mit höchst bescheidenem Erfolg. Schliesslich sollte auch Schwarz nicht einfach die Rolle des willfährigen Opfers spielen,  sondern sich methodisch  am Kampf beteiligen.

Übrigens war Bobby Fischer ein Experte des Evansgambits. Er spielte es zig Mal im Simultan. Asa Hoffmann schreibt in seiner Autobiografie, dass er mit ihm nächtelang Evansgambite geblitzt hat. Fischer bevorzugte auf 9…Lg4 10.Da4, was den Doppelbauern vermeidet, aber nach 10…Ld7 wenig hergibt. Eine Partie Fischer-Panzer, Chicago 1964, ging mit 10…Lxf3 11.d5 weiter. Richtig war nun 11…Lg4 12.dxc6 bxc6 13.Dxc6+ Ld7 14.Dd5 Le6 15.Lb5+ Kf8 16.Dd3. Weiss steht gut.

9.Sc3 ist also eine fiese Falle.

Weiss droht zwar nichts konkretes, aber Schwarz sollte sich schon Gedanken machen, wie er zur Rochade kommen will. Er steht vor einer schwierigen Wahl. So verliert 9…Se7 10.Sg5 0-0 11.Dh5 instant.

Der methodische Zug ist ganz offensichtlich 9…Sa5, Aber es könnte ihm ja einfallen, „nach allgemeinen Prinzipien“ mit 9…Sf6 eine Figur zu entwickeln. Der Zug ist methodisch höchst verdächtig, weil er in einen direkten Angriff hinein läuft: 10.e5 dxe5 11.La3. So hat Morphy gleich mehrmals gespielt.  Diese Stellung steht in den Datenbanken mit 100% für Weiss zu Buche.  Schwarz ist auch analytisch verloren:

11…Sa5 12.Da4+ Ld7 13.Sxe5, droht Matt auf f7, 13…Sxc4 14.Dxc4 Le6 15.d5 und gewinnt.

11…Lxd4 12.Db3 Dd7 13.Tae1 Sa5 14.Sxe5 Sxb3 15.Sxf7+ De6 16.Lxe6 Lxe6 17.Sxh8 0-0-0 18.Txe6 Lxc3 19.Sf7 Td7 20.Sd6+ cxd6 21.axb3 lautet die Computerauskunft. Morphys Gegner zogen 12…Le6 und wurden zügig mattgesetzt.

11…Sxd4 droht 12…c5, und stellt eine schwierige Aufgabe. Der Computer empfiehlt 12.Sxd4 Lxd4 13.Sb5 c5 14.Sxd4 Dxd4 15.Db3 0-0 16.Tad1 Df4 17.Lxf7+ Kh8 18.Lxc5.

Kommen wir zum methodischen Zug nach 1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.b4 Lxb4 5.c3 La5 6.d4 cxd4 7.0-0 d6 8.cxd4 Lb6 9.Sc3, nämlich

9…Sa5 10.Ld3. Statt dessen wurden auch andere Züge ausprobiert, aber es scheint mir, dass die Drohung 10…Sxc4 bedient werden muss. 10…Lg4 11.Le3 Sf6. Schwarz hat die Gefahren des Gambits überstanden, und ungefähren Ausgleich erreicht.

Ich würde Morphys Zug 9.Sc3 wählen, weil die Mehrheit der Spieler nach 9.d5 Sa5 gefunden hat, aber nach 9.Sc3 nicht 9…Sa5 gespielt hat.

Nun habe ich ein paar Stunden für eine Stellung aus einer obskuren Eröffnung verplempert, die seit 5 Jahren nicht mehr vorgekommen ist, weil die Computer herausgefunden haben, dass 7.Db3 und auf 7.0-0 7…Sf6 oder 7…Sge7 stärkere Züge sind.

Ich gebe zu, dass mich Rétis Kommentar dazu angestachelt hat, zu zeigen, dass 9.d5 und 9.Sc3 gleichwertig sind.

Es geht mir aber um mehr. Ich habe gezeigt, dass nach  9.Sc3 der methodische Zug 9…Sa5 der einzig korrekte ist. Klar, das Evans Gambit ist eine Patzereröffnung, und die statistischen Daten werden kaum relevant sein. Deshalb habe ich untersucht, was stärkere Spieler  mit Schwarz im 9. Zug gespielt haben. Ich fand 17 Partien, in denen die Schwarzen mehr als 2200 Elo hatten. Von diesen 17 spielten zwölf 9….Lg4, vier 9…Sa5 und einer 9…Sf6.

Der einzige, der 9…Sf6 gezogen hat, hatte am meisten Elo von allen.

Das schwache 9…Lg4 spielten auch ein GM und ein IM. Dass die stärkeren Spieler praktisch durchs Band 9…Lg4 gemacht haben, kann nur daran liegen, dass sie, wie Réti es ausdrückt, „nach allgemeinen Prinzipien“, also „positionell“ gespielt haben. Das Ergebnis dieser 12 Partien war 8.5 zu 3.5 für Weiss.

Dass das methodische Denken dem positionellen Denken überlegen ist, steht für mich fest.

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