Ausgleich

Terji Petersen – Jonathan Rowson
Torshavn 2000

1.d4 Sf6 2.Sf3 e6 3.Lg5 h6 4.Lh4 d6 5.Sc3 g5 6.Lg3 Sh5 7.e3 Lg7 8.Sd2 Sxg3 9.hxg3 Sd7

Ich liebe Jonathan Rowsons Bücher, die „Sieben Todsünden“ etwa, aber nur aus Schach-psychologischen Gründen. Dieses Beispiel entnehme ich aus „Schach für Zebras“, wo er über diese Stellung fünf Seiten lang philosophiert, und uns in die Gedankengänge seiner Schüler und auch diejenigen seiner Grossmeisterkollegen einweiht.

Ich habe mich an seine Anweisung gehalten, diese Stellung eine Viertelstunde lang zu betrachten und einen Zug vorzuschlagen. Ich sah, dass 10…e5 wegen dem Loch auf f5 zumindest keine Drohung war und dass Schwarz immer mit d6-d5 konsolidieren könnte. Dann prüfte ich den Angriff 10..c7-c5 und fand, dass man den mit 11.Sb3 abfedern könnte. Allerdings hätte ich in dieser Stellung lieber Schwarz gehabt. Ich hätte zweifellos das methodische 10.f4 gezogen, was ein bisschen Druck auf g5 macht, eventuell die f-Linie öffnen kann und 10…c5 mit 11.Sb3 beantworten will. Auf 10…d5 plante ich 11.Sf3.

Ich war schon enttäuscht, dass Rowson diesen Zug überhaupt nicht in Betracht zieht, das seltsame 10.a4 empfiehlt, weil das Tiger Hillarp Persson vorgeschlagen hat, „um auf dem Damenflügel ein paar Felder einzunehmen“, und schlussfolgert, „dass eindeutige Lösungen recht selten vorkommen und dass sie, wenn sie einmal vorkommen, nicht notwendigerweise einem logischen Argument folgen.“

Der Computer bestätigte meine Meinung in allen Punkten. 10.f4 ist tatsächlich der Zug, der die Stellung im Gleichgewicht hält, aber zusätzlich sogar Aussichten auf Vorteil gibt, was bei anderen Zügen, z.B. 10.Sb3 wegen dem störenden 10…a5 nicht der Fall ist.

Zusätzlich bringt die Maschine die Idee, mit einem Bauernopfer die Stellung aufzubrechen, ins Spiel: Nach 10.f4 d5 kann ich statt 11.Sf3 11.Df3 spielen und nach 11…c5 den Angriff auf d4 mit 12.0-0-0 einfach ignorieren. Der Computer setzt dann mit 12…a6 13.Se2 b5 14.dxc5 Sxc5 15.Sd4 fort, mit verteilten Chancen.

Die Pointe von 10.f4 d5 11.Df3 c5 12.0-0-0 ist nach 12…exd4? 13.exd4 Lxd4 das Figurenopfer 14.Sxd5 exd5 15.Dxd5 mit tödlichem Angriff.

10.Df3 a6

„Ein flexibler Zug. Schwarz braucht nichts zu überstürzen.“ Er gibt diesem nutzlosen Zug sogar ein Ausrufezeichen. Statt dessen hätte er mit 10…d5 11.0-0-0 c5 sofort zur Sache kommen sollen.

11.g4? d5 12.e4?

Schon 11.g4 war zu gar nichts nütze, ausser dass dieser Bauer später in manchen Varianten hängen wird. Der Textzug ist ein grober Fehler. Er konnte d4 einfach wegnehmen. 12…Lxd4 13.exd5 Se5 14.Dg3 exd5 15.Sb3 Lxc3 16.Dxc3 Dd6 mit einem gesunden Mehrbauern. Das einfache 12…e5 war aber am stärksten. Sein Zug lässt Weiss am Leben, weil nun h6 hängt, wenn er d4 nimmt.

12…0–0? 13.0–0–0 c5?

Rowsons Buch erschien 2007. Er hätte bestimmt schon einen Fritz gehabt, mit dem er seine Ansichten überprüfen konnte. Er gibt sich ein Ausrufezeichen und kommentiert „Viel besser als 13…e5 14.Sb3, und ich habe eine Schwachstelle auf f5.“ Zunächst ist das mit der Schwachstelle eines dieser Rowson’schen logischen Argumente, die schwache Züge provozieren. Er hätte einsehen müssen, dass die Stellung nun wieder ausgeglichen ist. Nach 13…e5 14.Sb3 a5 15.a4 dxe4 16. Sxe4 exd4 17.Sxd4 Se5 18.Da3 ist er tatsächlich wegen seinem Loch auf f5 in Gefahr, aber seine Stellung ist nach 18…De8 immer noch gut spielbar.

Korrekt war 13…c6. Weiss hat am Königsflügel nichts, und Schwarz fängt an, die Damenflügelbauern vorzurücken.

14.dxc5 d4?

14…Sxc5 15.exd5 exd5 16.Sb3 Sxb3+ 16.axb3 d4 hätte seinen Nachteil im Rahmen gehalten, aber er fällt einer Halluzination zum Opfer.

15.Sa4 Se5

Es droht 16…Da5. 16.Da3 verhindert das wegen 16…Da5 17.Sb3. 16…Sxg4 17.Dg3 Se5 18.Sb6 Tb8 und Weiss darf sich schon über das Qualitätsopfer 19.Txh6 Gedanken machen. Aber da Schwarz vollkommen passiv steht, dürften auch diverse andere Züge gewinnen.

16.De2?? Da5 17.Sb6 d3 18.Sb3? dxe2 19.Sxa5 exd1D+ 0-1

Ich bin Jonathan Rowson dankbar, dass er diese Partie von Hand analysiert hat. Er bestätigt damit eindrücklich, dass „logische Argumente“ wie „Schwachstellen“, „halboffene Linien“, „flexible Züge“ und so weiter, zu Fehlern führen, selbst in der Analyse. Im 21. Jahrhundert sollten Schachbücher ohne Computeranalysen verboten sein.

Ausgeglichene Stellungen sind die schwierigsten überhaupt. Diese Partie führt das eindrücklich vor. Jeder zweite Zug war ungenau, fehlerhaft oder falsch, und das Drama endet damit, dass Weiss eine offensichtliche Drohung missachtet, deren einfache Abwehr ihm eine Gewinnstellung eingetragen hätte.

Mit meinem methodischen Denkansatz hätte ich erstens das starke 10.f4 gefunden und manche Züge, wie 10..a6, 11.g4, 12.e4, 11…0-0 und so weiter nicht einmal erwogen. Immerhin ist es gut möglich, dass ich den Verlustzug 13…c5 auch produziert hätte.

Im Spiel gegen deutlich schwächere Gegner ist es eine wunderbare Strategie, den Gegner in ausgeglichenen Stellungen auszumanövrieren. Englische oder damenindische Stellungen sind dafür ganz besonders geeignet. Man wartet geduldig auf eine Ungenauigkeit des Gegners, um dann sofort die Schraube anzuziehen und konkret zu werden. Die folgende Partie ist eine prächtige Illustration dafür.

Ehsan Ghaem Maghami – Werner Kaufmann
Schweizerische Gruppenmeisterschaft, 02.05.2015

1.c4 b6 2.Sc3 Lb7 3.Sf3 Sf6 4.g3 g6 5.Lg2 Lg7 6.d3
Ehsan hat etwa 2600 Elo. Ich habe mich schon gewundert, dass er so ambitionslos spielt. Ich wusste aber auch, dass ich nach dem schablonenhaften 6.d4 Se4 7.Dc2 Sxc3 8.Dxc3 c5 ebenfalls Ausgleich habe.

6…0–0 7.Lg5

Die erste Entscheidung steht an. Ein Standardzug wäre 7…c5. Der Computer schlägt das seltsame, aber methodische 7…c6 8.0-0 d5 vor. Ich dachte mir, dass es kaum schlecht sein konnte, das Läuferpaar zu nehmen, wenn er es schon geben wollte. Das ist das Charakteristikum von ausgeglichenen Stellungen, dass jede Partei beliebig Möglichkeiten hat.

7…h6 8.Lxf6

Die nächste Entscheidung. Nachträglich bereue ich es, mit dem Bauern genommen zu haben, weil ich damit meine Chancen auf Gegenspiel im Zentrum oder am Königsflügel kompromittiere.

8…exf6 9.0–0 f5 10.d4 d6 11.Tc1 Sd7 12.e3 Te8 13.Db3

Trotzdem ich nichts zu befürchten habe macht sich die Passivität meiner Stellung bemerkbar. Ich wollte mich nicht mit 13…c5 festlegen und blieb weiterhin „flexibel“.

13…Tb8 14.Tfd1 a6 15.Dc2

Natürlich ist 15…c5 okay. Mein erster Gedanke war aber 15…c6. Obwohl ich daran nichts falsches entdecken konnte, fand ich ein Rowson’sches logisches Argument dagegen, in der „Hässlichkeit“ dieses Zuges, und blieb bei meinem „elastischen“ Spiel.

15…Dc8 16.d5

Das hatte ich glatt übersehen. Er will gelegentlich den Springer nach d4 stellen und langsam c5 durchdrücken. Objektiv ist noch nichts passiert, aber sobald sich konkrete Konturen abzeichnen kommt man psychisch unter Druck, und Panikreaktionen bleiben nicht aus. Meine Reaktion ist immer noch korrekt…

16…Dd8 17.b4

… aber jetzt hätte ich mit 17…h5 oder 17…Ta8 18.Sd4 a5 abwarten sollen, immer noch mit Ausgleich.

17…Df6?! 18.Sd4 Tbc8?! 19.Sa4

Ich hatte es nicht geschafft, ein Gegenspiel vorzubereiten. Er hat klaren Vorteil. Der Durchbruch c4-c5 wird unvermeidlich, auch nach 19…Lf8 20.Sb3.

19…h5 20.c5 dxc5 21.bxc5 Sxc5 22.Sxc5 bxc5 23.Dxc5 Lf8

Noch ist Polen nicht verloren, aber die Lage ist ernst. Er wählt die offensichtliche taktische Abwicklung, aber es wäre besser gewesen, mittels 24.Dc4 weiterhin Druck zu machen, a6 wird früher oder später fallen.

24.Da7 Db6 25.Dxb6 cxb6 26.Tb1

Eine Chance war auch 26…b5 27.d6 Lxg2 28.d7 Le4 29.dxc8 Txc8 30.Tbc1 Txc1 31.Txc1 b4 mit zähem Widerstand.

26…Ted8 27.Txb6 Lxd5 28.Lxd5 Txd5 29.Txa6 Lg7 30.Td2

Nach der Partie zeigte er mir 30…Lxd4. Sowohl nach 31.Txd4 Txd4 32.exd4, als auch nach 31.Ta4, was er spielen wollte, 31…Tc1+ 32.Kg2 Lxe3! (das hatte er übersehen) 33.Txd5 Tc2 bleibe ich in der Partie. Meine Idee, den Läufer zu behalten war komplett falsch. Sein König kommt zum Damenflügel, meiner aber nicht.

30…Tcd8? 31.Ta4 h4 32.Kg2 hxg3 33.hxg3 Le5 34.Kf3 Lc7 35.Ke2 La5 36.Tc2 Lb6 37.Sc6 T8d7 38.Tb4 Lc7 39.a4 Kg7 40.Tb7 Ld8 41.Txd7 Txd7 42.Td2 1–0

Eine eindrückliche Lektion. Natürlich habe ich meinen Kumpels erzählt, dass er aus der Eröffnung überhaupt nichts herausgeholt hat und ich das Endspiel womöglich halten konnte. Aber ich weiss selber, dass dies nicht den Kern der Sache trifft. Er wird mich in solch langsamen, ausgeglichenen Stellungen von zehnmal neunmal überspielen. Meine einzige Chance liegt im scharfen, komplizierten Gemetzel. Alle meine Siege gegen GM und IM entstanden aus unübersichtlichen taktischen Stellungen und oft sogar aus unkorrekten Hurra-Angriffen.

Marta Bartel – Werner Kaufmann
MTO Biel, 25.07.2015

1.Sf3

Marta Bartel, geborene Przeździecka, ist Frauengrossmeisterin („WGM“, polnisch: Arcymistrzyni) und die Ehefrau des starken Grossmeisters Mateusz Bartel aus Polen. In der Datenbank hatte ich nur Partien gefunden, die sie mit 1.d4 begann. In meinen eigenen Datenbank-Partien musste ich meines Wissens nur einmal gegen 1.Sf3 spielen, und zwar gegen Kortschnoi. Dort ging es mit 1…e6 2.g3 b6 3.e4 Lb7 weiter. Vielleicht hatte sie da etwas präpariert. Seit jener Partie sind aber 5 Jahre vergangen, in dieser Zeit habe ich eine Vorliebe für das „Doppelloch“, wie auch in der vorherigen Partie, entwickelt.

1…c5

Sizilianisch mit 2.e4 würde sie kaum riskieren…

2.g3 b6 3.Lg2 Lb7 4.c4 Sf6 5.0–0 g6 6.Sc3 Lg7 7.a3

Wenn sie etwas aus der Eröffnung herausholen will, muss sie 7.d4 spielen. Von 7…Se4 8.Sxe4 Lxe4 9.d5 halte ich wenig. Ich mag es nicht, gegen einen Bauern auf d5 zu spielen, der mir für lange Zeit alle eigene Aktivität wegnimmt. Ich hätte 7…cxd4 gezogen. Sowohl nach 8.Sxd4 Lxg2 9.Kxg2 0-0, als auch nach 8.Dxd4 Sc6 steht Weiss etwas besser, was bedeutet, dass das Spiel einen einigermassen forcierten Charakter annimmt.

Nach dem Textzug ist es komplett ausgeglichen, und nach meiner Antwort verflacht das Spiel. Gehaltvoller wäre 7…0-0, um nach 8.b4 mit 8…d5 Leben in die Bude zu bringen. Natürlich ist sie nicht verpflichtet 8.b4 zu spielen, sondern hat viele Züge zur Wahl, e3, d3, d4 oder Dc2. Für Weiss empfiehlt sich 8.d3 d5 9.cxd5 Sxd5 10.Ld2 Sc6 11.Tc1. Es ist Leben in der Stellung.

Die Partie wurde in der 6. Runde gespielt, ich hatte bis dahin 2 aus 5 und eine katastrophale Performance von knapp 2000, wegen meiner alten Schwäche, dass ich gegen Zweitausender einfach nicht Schach spielen kann, und weil ich in den zu wenigen Turnieren, die ich spiele, immer schlecht starte. Nach 5 Tagen Schach war ich nun „eingespielt“, was heisst, dass ich technisch einigermassen sicher spiele. In den nächsten 6 Runden erreichte ich mit +2 =3 -1 gegen 3 IM, 2 FM und eine WGM ein positives Resultat mit einer Performance um die 2400.

Dass ich nun eingespielt war, zeigte sich tags darauf im 3’+2“ Blitzturnier. Ich zerlegte die schwächeren Gegner förmlich und brauchte jeweils nur gerade etwa zwei Minuten Bedenkzeit dafür. Gegen etwa gleich starke ergaben sich wilde Partien mit unterschiedlichem Ausgang. Gegen GM hielt ich gut mit, sinnigerweise auch gegen Herrn Bartel. Ich bekam sogar Gewinnstellungen, hatte aber Probleme mit der Bedenkzeit, und verlor alle diese Partien.

Ohne technische Sicherheit geht es nicht im Schach, aber das ist nur die Basis. Meine 2400-Performance klingt gut, aber Ich spielte methodisch bedenklich schwach, liess mehrere klare Gewinnzüge aus und machte diverse Verlustzüge, gerade weil ich immer den technischen Weg suchte, statt dem zu folgen, was ich hier predige. Das Resultat lässt vermuten, dass meine Gegner in methodischer Hinsicht ebenso schwach waren. Meine Partie-Analysen nach dem Turnier bestätigten dies.

7…d5 8.cxd5 Sxd5 9.Tb1 0–0 10.Sxd5 Dxd5 11.d3 Sc6 12.b4

Frau Bartel ist nicht angetreten, um mit einem ausgemachten Patzer – das liessen meine bisherigen Resultate vermuten – ein fades Remis zu schieben.

Dies ist bereits mehrmals vorgekommen, unter anderem in einer Partie Ribli-Miles, Amsterdam 1978. Miles machte selbstverständlich den methodischen Zug 12…Da2, was vermutlich die beste Wahl ist. 13.Le3 Sd4 14.Lxd4 cxd4 15.Ta1 Dd5 und Weiss hat wegen dem Loch auf c3 kein leichtes Leben. Miles gewann denn auch.

Eine Alternative ist 12…cxb4 13.axb4 Sd4 14.Lb2. Auch das sieht recht gut aus für mich.

Ich erspähte hingegen ein strategisches Motiv, nämlich die Bauern-Mehrheit am Damenflügel à la Grünfeld, und wollte mit der Dame auf c5 zurücknehmen.

12…Tac8

Auf 13.Sd2 wollte ich 13…Dh5 spielen, sie könnte dann meine Dame mit 14.Lf3 Df5 15.Le4 ewig verfolgen, was sie sicher nicht tun würde. Das eben ist der Unterschied gegenüber dem Spiel mit Zweitausendern. Die würden das Angebot instant annehmen… Auf 14.Lb2 war 14…Sd8 geplant, und ich hätte gute Aussichten, mein Grünfeld-Endspiel zu erreichen.

13.e3?

Ein verzweifelt anmutender Versuch, doch noch ein paar Komplikationen zu schaffen. So darf man in ausgeglichenen Stellungen nicht spielen, sondern sollte sich bemühen alles in der Schwebe zu halten und auf einen Absturz des Gegners zu warten. 13.Sd2 war der gegebene Zug, nach 13…Dh5 14.Lf3 Df5 könnte man 15.g4!? probieren, 15…Dd7 16.bxc5 bxc5 mit einem Ausgleich der komplizierteren Art.

Jetzt aber würde sie selber abstürzen. Doch die Aussicht, „mein“ Endspiel nun forciert zu erreichen, machte mich blind für methodische Erwägungen (keine Pläne!). 13…cxb4 14.axb4 Tfd8 15.d4 Se5 16.Sh4 Dd7 17.Lxb7 Dxb7 mit gewaltigem Stellungsvorteil.

13…Se5? 14.Se1 Dd7 15.Lxb7 Dxb7 16.bxc5 Txc5 17.d4 Td5 18.De2 Sc6 19.f4 e6 20.Sf3 Tc8 21.Lb2? Sa5

Ich habe meine Traumstellung erreicht. Weiss steht eine lange mühsame Verteidigung bevor. Das liegt daran, dass sie meinen Springer nach a5 gelassen hat. Mit 21.Ld2 konnte sie die Stellung immer noch in der Schwebe halten. Frauen sind schlecht im Abwarten und wollen immer etwas unternehmen. Das zeigt sie auch mit ihrem nächsten Zug.

22.e4 Td7 23.Tbc1 Tdc7 24.Txc7 Dxc7 25.Tc1 Db7 26.Td1?

Ganz schwach. Mit dem d-Bauern ist nichts zu holen. Sie musste sich auf der c-Linie mit 26.Tc2 oder 26.Tc3 entgegen stemmen.

27…Sc4 27.Lc1 b5 28.d5 exd5 29.exd5 Td8

Jetzt ist der d-Bauer futsch, z.B. 30.De4 Sb6

30.Dd3 Lb2 31.De4 Lxc1 32.Txc1 Dxd5 33.Dxd5 Txd5 34.a4 a6 35.axb5 axb5

Das Endspiel ist hoffnungslos. Bis hierhin hatte ich nur etwa 45 Minuten Bedenkzeit verbraucht, aber ab sofort wog ich jeden meiner Züge sorgfältig ab, um ja nichts anbrennen zu lassen. Insbesondere 37…h5 war super präzise.

36.Kf2 Kf8 37.h4 h5 38.Ta1 Ke7 39.Ta7+ Td7 40.Ta1 Kd6 41.Sg5 b4 42.Se4+ Kc6 43.f5 b3 44.fxg6 fxg6 45.Ta4 Td4 46.Sc3 Kc5 47.Ta6 Td2+ 48.Ke1 Tc2 49.Sd1 Se5 50.Ta5+ Kd4 51.Ta4+ Sc4 52.Ta6 Kd3 53.Txg6 Te2+ 54.Kf1 Sd2+ 0–1

Marta musste sich von ihrem eifrig kiebitzenden Mateusz schon während der Partie einige von ungnädigem Kopfschütteln untermalte Bemerkungen anhören. Kein Wunder verliess sie nun eilends den Ort ihrer Schmach. Schade, sie trug ein dezentes klassisches Parfüm, ich hätte sie gerne danach gefragt.

Ich denke dass diese Partie eine gute Illustration dafür ist, was ich mit „keine Pläne!“ meine. Mit meinem 12. Zug strebte ich eine Bauernstruktur an, von der ich „wusste“ dass sie günstig ist und fasste den Plan, sie zu erreichen, auch unter Gefahren. Das bedeutet, dass ich die Stellung unter einem abstrakten Gesichtspunkt betrachtete. Den konkreten Zug 12…Da2 sah ich sehr wohl, verwarf ihn aber, gerade weil mein Plan so verlockend erschien. Ich erkannte auch, dass die Struktur nach 12…cxb4 13.axb4 nichts besonderes hergab. Nach ihrem 13. Zug verfolgte ich meinen Plan stur weiter, obwohl ich hätte erkennen müssen, dass nun 13…cxb4 14.axb4 unter den veränderten Umständen zu grossem Vorteil führte. Ich hatte mir meine Meinung über cxb4 gemacht und prüfte sie nicht noch einmal.

Gut, ich habe dann diese Struktur bekommen, was auch nicht selbstverständlich ist, denn wenn meine Gegnerin den methodischen Zug 13.Sd2 macht, kommt etwas ganz anderes heraus. Nun ist die Grünfeld-Struktur nur wirklich günstig mit einem Springer auf a5. Ich kann Frau Bartel den Vorwurf nicht ersparen, dass sie mit ihrem 21. Zug meinen Springer auf dieses Feld liess, indem sie den idiotischen Plan fasste, d4-d5 durchzusetzen und diesen Plan buchstäblich ohne Rücksicht auf Verluste verfolgte.

In Partie-Kommentaren wird immer betont, wie wunderbar planvoll der Held die Sache angegangen ist, und diese Partie würde von einem Fremden bestimmt in diese Richtung kommentiert werden. Die Wirklichkeit ist weit davon entfernt. Schach wird von Zug zu Zug gespielt, auch wenn nichts wirklich taktisches drin ist. „Keine Pläne!“ will heissen, dass die Optionen Zug für Zug  neu überprüft werden wollen. Hätte ich das im 13. Zug getan, wäre mir 13…cxb4 ohne weiteres eingefallen. „Optionen überprüfen!“ wäre ein anderer möglicher Titel für diese Betrachtungen, aber „keine Pläne!“ ist doch viel plakativer, oder nicht?

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